Seit 2012 ist die Zahl der Menschen mit Lese-schwäche in Österreich von 17 auf 29 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Das sind 1,7 Millionen Menschen. Das zeigt eine im Vorjahr veröffentlichte Studie der OECD. Besonders schlecht lesen Ältere. Experten sprechen von besorgniserregenden Zuständen.
29 Prozent der Österreicher scheitern bei Leseaufgaben, die ein zehnjähriges Kind nach der Volksschule bewältigen können muss. Zu diesem alarmierenden Befund kommt die PIAAC-Studie, die die OECD im Abstand von elf Jahren durchführt. 29 Prozent der über 4.000 interviewten Personen können entweder gar nicht oder nur mit Mühe einfache Texte lesen und verstehen. Was die OECD-Studie darüber hinaus belegt: Die Zahl hat sich seit der letzten Erhebung 2012 beinahe verdoppelt. Besonders schwer tun sich — auch das mag überraschen —Menschen in der Altersgruppe 55 bis 65 Jahre mit einem niedrigen Bildungsabschluss. Relativ gute Leser sind dagegen die Jungen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren. Sie lesen besser als der OECD-Durchschnitt. Für Experten ist das ein Beleg dafür, dass das so oft kritisierte österreichische Schulsystem so schlecht noch nicht ist.
Woran es liegt, dass gerade ältere Semester an Leseaufgaben scheitern, darüber gibt die „Pisa-Studie für Erwachsene“, wie die OECDStudie auch genannt wird, keine Auskunft.

Urania-Geschäftsführer
Wolfgang Moser:
Großer Bedarf an Kursen
zum Nachholen eines Pflichtschulabschlusses.
Karin Landers, Leiterin des Instituts für Entwicklungspsychologie an der Universität Graz, ist davon überzeugt, dass die mit den Jahren schlechter werdende Leseleistung etwas mit dem Leseverhalten zu tun hat: „Auch ältere Menschen lesen immer weniger Bücher“, konstatiert Landerl. „Gelesen werden höchstens sehr kurze Texte in Boulevard-Medien. Auch ältere Personen schauen gerne Youtube-Videos.“
Wer den Sinn einfacher Texte nicht erfassen kann, gilt als funktionaler Analphabet. „Diese Menschen haben zwar Lesen gelernt, sie können aber ein einfaches Leseverständnis nicht umsetzen“, erklärt Landerl. Und das bedeutet im Beruf und im Alltag, Strategien entwickeln zu müssen, mit denen man sein Handicap verstecken kann. Zum Beispiel, indem man im Gasthaus immer ein Schnitzel bestellt, weil man die Speisekarte nicht lesen kann. Oder indem man den Gemeindemitarbeiter bittet, für einen ein Formular auszufüllen, weil man die Lesebrille vergessen hätte.
Dass die steigende Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund ein Grund für das schlechte Abschneiden Österreichs im OECD-Vergleich sein könnte, wird von den Autoren der Studie nicht bestätigt. Zwar schneiden Zuwanderer beim Lesetest schlechter ab, deren Einfluss auf die Gesamtdiagnose sei jedoch gering. Hinzu komme, dass Personen der zweiten Generation kaum schlechter abschneiden als Menschen ohne Migrationshintergrund.
Kerstin Slamanig, Geschäftsführerin
des Bildungsnetzwerks Steiermark: Verdoppelung des Budgets für die Erwachsenenbildung.

Bleibt die Frage, welche Rolle die neuronale Lernstörung Dyslexie spielen könnte. Dyslexie oder Legasthenie steht für eine Störung, die die Zuordnung von Lauten zu Buchstaben für Menschen sehr schwer macht. „Heute hat man gute Konzepte entwickelt, wie man diese Zuordnung mit diesen Kindern üben und stärken kann“, erklärt Landerl. „Aber diese Kinder werden immer langsame Leser bleiben, weil das Lesen für sie sehr mühevoll ist und sie drei bis vier Mal so lang für einen Text brauchen wie andere Kinder.“
Könnte es also sein, dass man bei den heute über 55-Jährigen diese Lernstörung in der Kindheit nicht erkannt hat? Landerl hält dies für durchaus möglich. „In den 1970er Jahren hat man gedacht, es gebe diese Lernstörung gar nicht. Erst in den 1990er Jahren ändert sich das.“
„Nicht lesen zu können, das ist unglaublich schambehaftet“, sagt Wolfgang Moser. Er leitet den Verein Urania, eine Einrichtung der Erwachsenenbildung in Graz, die in Graz und Zeltweg Kurse anbietet, in denen man grundlegende Kompetenzen wie Lesen und Rechnen erwerben und einen Abschluss der Pflichtschule nachholen kann. Moser weist aber auch auf die gesellschaftlichen Folgen mangelnder Lesekompetenz hin: „Diese Menschen sind kaum in der Lage, einer Arbeit nachzugehen“, sagt Moser. „Hunderttausende funktionale Analphabeten bedeuten aber auch ein Problem für die Demokratie. Denn sie sind für klassische Medien nicht mehr erreichbar.“
Zu den Kursen der Urania kommen vor allem Menschen unter 30 Jahren, die das Arbeitsmarktservice vermittelt und finanziell unterstützt. „Ältere Menschen erreicht man mit diesen Kursen kaum noch“, sagt Moser. „Denn Menschen dieser Altersgruppe trauen es sich es nicht mehr zu, etwas an ihrem Leben zu ändern.“ Und das obwohl man in der Urania neben den Kursen auch Einzelbetreuung anbietet. Ehrenamtliche Lernpaten kümmern sich um Menschen, die auch das Lernen verlernt haben und individuelle Unterstützung brauchen. „Gerade weil man so eine persönliche Bindung und ein Vertrauensverhältnis aufbauen kann, bewährt sich diese Patenschaft“, betont Moser. Auch wenn er weiß, dass er mit seinem Kursangebot nur einen vergleichsweise kleinen Beitrag zur Lösung dieses massiven gesellschaftlichen Problems leisten kann. „In Graz haben wir 20 Personen, in Zeltweg 15 im Pflichtschulabschluss-Kurs. Das AMS hat aber allein im Bezirk Murtal zwischen 200 und 300 Personen in der Datei, die keinen Pflichtschulabschluss haben.“
INFO
DIE OECD-STUDIE
PROGRAMME FOR THE INTERNATIONAL ASSESSMENT OF ADULT COMPETENCIES (PIAAC)
Ziel: Erhebung der Grundkompetenzen der erwachsenen Bevölkerung (16 bis 65 Jahre) in den Bereichen Lesen, Mathematik und adaptives Problemlösen. An der Studie teilgenommen haben 31 Länder (29 OECD-Länder), Kroatien und Singapur.
Die Studie wurde 2022/23 zum zweiten Mal durchgeführt. In Österreich wurde die PIAAC-Erhebung von Statistik Austria im Auftrag des Wirtschafts- und des Bildungsministeriums gemacht.
Methode: Befragung von 4.565 Personen der Jahrgänge 1958 bis 2007. Die Befragungen fanden in der Regel bei den Befragten zu Hause statt. Die Befragung gliederte sich in zwei Teile: einem Hintergrundfrageboden (Fragen zu Schulabschluss, Beruf, demografischer Hintergrund) und einem Aufgabenteil zur Kompetenzmessung. Die grundlegenden Komponenten der Lesekompetenz messen die Fähigkeit, einfache Sätze sowie kurze Textabschnitte zu lesen und zu verstehen. Das heißt: Verstehen, Evaluieren und Reflektieren von schriftlichen Texten, um die eigenen Ziele zu erreichen sowie das eigene Wissen und Potenzial zu entwickeln und an der Gesellschaft teilzuhaben.
Österreich schnitt bei der Leseleistung mit 254 Punkten schlechter als der OECD-Durchschnitt (260 Punkte) ab. Über dem OECD-Durchschnitt lag Österreich im Fach Mathematik mit 267 Punkten (OECD-Durchschnitt 263) und im Fach adaptives Problemlösen mit 253 Punkten (OECD-Durchschnitt 251 Punkte)
Die Zahlen belegen, wie groß der Bedarf an Bildungsmaßnahmen für diese Personengruppe eigentlich ist. Ein Bedarf, dem die Erwachsenenbildung in Österreich kaum gerecht werden kann.
Kerstin Slamanig, Geschäftsführerin des Bildungsnetzwerks Steiermark, führt dies vor allem auch auf die Finanzierung der Erwachsenenbildung zurück. Gerade einmal 0,5 Prozent der Bildungsausgaben gehen in diesen Bereich. Slamanig hält eine Verdoppelung des Budgets für absolut notwendig. Mehr Geld, aber vor allem auch sichere Strukturen werden gebraucht. „Viele Trainer in der Erwachsenenbildung arbeiten freiberuflich“, sagt Slamanig. „Ob sie im nächsten Jahr noch Kurse leiten können, erfahren sie oft sehr spät.“ Slamanig wünscht sich fixe und langfristige Finanzierungszusagen. Wie belastend das Arbeiten mit der Unsicherheit ist, veranschaulicht Wolfgang Moser mit einem Beispiel aus seiner Organisation: „Unser laufender Basisbildungskurs endet mit dem 14. Februar, Mitte Januar wissen wir nicht, ob unser Fördergeber einen Anschlusskurs im März finanzieren wird.“ Weil der nächste Job nicht fix ist, würden sich viele Kursleiter als Quereinsteiger um eine Stelle im Schulwesen bewerben. „Es gibt hier einen großen Brain Drain“, konstatiert Moser.

Entwicklungspsychologin
Karin Landerl:
„Lesekompetenz hat mit
Leseverhalten zu tun.“
Der für Bildung zuständige Landesrat Stefan Hermann (FPÖ) ist davon überzeugt, dass es auf den richtigen Grundstein im Kindesalter ankomme: „Initiativen zur Stärkung der Lesekompetenz bei Kindern und Jugendlichen sind angezeigt, damit man eine nachhaltige Verbesserung herbeiführen kann.“
Die für Erwachsenenbildung zuständige Landeshauptmann-Stellvertreterin Manuela Khom (ÖVP) betont die Bedeutung von lebenslangem Lernen: „Deshalb ist es uns wichtig, die Bedeutung der Erwachsenenbildung stärker in das Bewusstsein der Steirerinnen und Steirer zu rücken“, sagt sie. „Das Land Steiermark hat dazu die ,LLL-Strategie‘ und die sogenannte ,Steirische Erklärung der Erwachsenenbildung‘ auf den Weg gebracht. Das breite steirische Angebot der Erwachsenenbildung soll damit noch sichtbarer werden. “
Fotos: Benjamin Gasser, privat, Lueflight, Unsplash