Freundlichkeit hat zu Unrecht den Ruf, eine eher altmodische Tugend zu sein. Warum sie für eine Gesellschaft wichtig ist und was man tun kann, um sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen, erklären Expertinnen. Wir haben uns auch bei Grazer Bürgern umgehört.
„Radikale Freundlichkeit“, der Titel, den die Psychologin Nora Blum für ihr Buch gewählt hat, ist eigentlich eine Provokation. „Freundlichkeit ist out“, schreibt sie. „Und so verhalten wir uns auch.“ In einer Umfrage konstatierten 67 Prozent der Deutschen, dass Beleidigungen und Respektlosigkeit zunehmen würden. 70 Prozent sagen, das soziale Miteinander habe sich in den letzten drei Jahren verschlechtert.
Nora Blum wollte sich mit diesem Befund nicht zufriedengeben. Sie zog sich aus der Geschäftsführung ihres Unternehmens zurück und begann zu recherchieren. Und merkte bald, dass ihr die Auseinandersetzung mit dem Thema guttat: „Ich habe ein Gefühl der Selbstwirksamkeit zurückbekommen. “
Dass dieses gute Gefühl keine Einbildung ist, bestätigen neuropsychologische Studien: Freundlichkeit aktiviert die Belohnungszentren im Gehirn, Glückshormone werden ausgeschüttet. „Der Mensch ist auf die Beziehung zu anderen angelegt“, sagt dazu die Grazer Psychotherapeutin und Existenzanalytikerin Ursula Dobrowolski. „Er ist auf Gesellschaft angewiesen.“
Aber was versteht man nun unter Freundlichkeit? So ganz einfach lässt sich das
gar nicht in Worte fassen: Wohlwollende Toleranz anderen gegenüber, Empathie und anderen etwas Gutes tun, zitiert Blum einen englischen Psychologen.

„Höflichkeit im Umgang miteinander ist wichtig für alle Beteiligten. In den öffentlichen Verkehrsmitteln sollten Menschen mehr auf andere achten. Freundlich zu sein, ist für mich eine Lebenseinstellung, das tut nicht nur anderen gut, sondern auch mir selbst.„
BEATRIZ SILVA
Betriebsleiterin und Partnerin
Pink Elephant
Dobrowolski bietet einen eingängigeren Zugang an: „Freundlichkeit ist eine ungeschriebene Vereinbarung in der Gesellschaft, Freundlichkeit ist aber auch eine Haltung, also wie ich mit mir selbst und wie ich mit anderen umgehen will.“ Dobrowolski unterscheidet echte und gespielte Freundlichkeit. Hinter der gespielten versteckt sich meist eine berechnende Absicht, man will mit der Freundlichkeit etwas erreichen, sich selbst einen Vorteil verschaffen. Die echte Freundlichkeit hat mit Werten zu tun. „Wie möchte ich leben, wie möchte ich mit anderen umgehen“, erklärt sie.
„Ich versuche, meinen Mitmenschen in der Stadt freundlich zu begegnen. Deshalb erwarte ich mir, dass man auch mir mit einem Lächeln begegnet. Ich finde es schade, wenn Menschen durch die Stadt gehen und keine Augen für ihre Umwelt haben.„
REINHARD SUDY
Pensionist

So weit so einleuchtend. Aber warum fällt es uns dann so schwer, die Contenance zu bewahren? Wenn einem jemand an der Supermarkt-Kasse mit dem Einkaufswagen ins Kreuz fährt, zum Beispiel?
Diese Unfreundlichkeit wird als eine Art Kriegserklärung interpretiert, sie ärgert einen, wir schalten auf Angriff. Was in der Evolutionsgeschichte vielleicht einmal sinnvoll war, im Supermarkt ist ein Gegenangriff alles andere als angebracht. Nicht nur, wenn man dem unvorsichtigen Fahrer des Einkaufswagens ein paar erlesene Gemeinheiten an den Kopf wirft . Sondern weil man meist selbst danach ein ungutes Gefühl hat. „Man hat sich hinreißen lassen, obwohl das mit den eigenen Werten nicht vereinbar ist“, sagt Dobrowolski. „Man schämt sich.“

„Freundlichkeit ist wichtig für die Atmosphäre in einer Stadt. Graz ist eine freundliche Stadt, aber dort, wo viele Menschen zusammenkommen, wie in öffentlichen Verkehrsmitteln, gibt es schon viel Unfreundlichkeit.„
GUDULA KLAMMINGER
Pensionistin
Womit die Psychotherapeutin aber nicht sagen will, dass man den Einkaufswagen im Kreuz unkommentiert hinnehmen muss. Im Gegenteil: Man kann einem Rüpel mit Nachdruck sagen, dass einen sein Verhalten stört, ohne unfreundlich werden zu müssen. Gelingt einem das, kann der Effekt umwerfend sein. Man ist sich selbst treu geblieben, hat ein als inakzeptabel erlebtes Verhalten korrigiert und im besten Fall den Rüpel beschämt und zum Nachdenken gebracht.

„Freundlichkeit ist eine ungeschriebene Vereinbarung in der Gesellschaft.“
URSULA DOBROWOLSKI
Psychotherapeutin
Zu diesem Schluss kommt auch Buchautorin Nora Blum: Aggression auszuleben, reduziere den eigenen Ärger nicht. „Die Katharsis-Theorie, also dass man seinem Ärger Luft machen muss, damit er verschwindet, stimmt einfach nicht“, schreibt sie. Im Gegenteil: Unfreundlichkeiten sind ansteckend, eine Auseinandersetzung kann eskalieren, wie wir alle schon einmal erlebt haben.

Albin: „Freundlichkeit ist uns in der Gesellschaft ein wenig abhandengekommen, mit Corona ist das schlimmer geworden.“
Susanne: „Freundlichkeit bedeutet für mich auch, einander behilflich zu sein und einander mit Respekt zu behandeln.“
ALBIN UND SUSANNE WALTEN Inhaber Boutique Susis Seconds
Was kann man also tun, um nicht selbst in einer Negativspirale zu landen? Eine Antwort findet man bei Viktor Frankl, dem berühmten österreichischen Psychiater. „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unseres Verhaltens.“
Eine wichtige Voraussetzung für eine angemessene Art der Reaktion ist ein Reality-Check, eine möglichst neutrale Bewertung der Situation. Einmal tief Luft holen und ausatmen, damit hat man bereits eine gewisse Distanz zum unfreundlichen Gegenüber geschaffen. Kann gut sein, dass man mit diesem zeitlichen Abstand erkennen kann, dass die aggressive Reaktion des anderen gar nichts mit einem selbst zu tun hat. Dass man diese unangenehme Situation nicht persönlich nehmen muss. Auch wenn es schwerfällt, es hilft , sich in den anderen hineinzuversetzen. Hat er es vielleicht besonders eilig? Oder hat er vielleicht bloß einen schlechten Tag? Überlegungen wie diese können helfen, sich zurückzunehmen, sich in Ruhe eine angemessene und, falls nötig, deeskalierende Reaktion zu überlegen. Blum zitiert an diesem Punkt Michelle Obama. „Wenn sie unter der Gürtellinie agieren, reagieren wir mit Anstand“, hatte sie im US-amerikanischen Wahlkampf zwischen Joe Biden und Donald Trump gesagt.
Nora Blum, Radikale Freundlichkeit.
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kailash Verlag, 19 Euro

Die Berlinerin Nora Blum hat sich im Selbstversuch sehr intensiv mit dieser Art des Reagierens auseinandergesetzt. „Seit ich mich entschieden habe, auf Unfreundlichkeiten gelassener zu reagieren, profitiere ich selbst am meisten davon“, schreibt sie. „Ich will mir ja schließlich nicht den Tag verderben.“
Foto: iStock, Annika Richter, privat, Benjamin Gasser, kailash verlag