Die Geschichte der Hörminderung ist lange. Jene vom besseren Hören beginnt 1907 mit der Gründung von Neuroth als ältestes und führendes Hörakustikunternehmen. Lukas Schinko lenkt in vierter Generation die Geschicke des Familienunternehmens. Gemeinsam mit seinen rund 1.200 Mitarbeitern geht es ihm auch im Jubiläumsjahr um die Stärkung eines Organs für ein erfülltes Leben. Das macht Sinn.
GRAZETTA • Sie haben am 1. Oktober 2011 den Vorstand übernommen. Damals erwirtschaftete das Unternehmen mit 112 Fachinstituten rund 90 Millionen Euro Umsatz. Heute, im 115. Jubiläumsjahr liegt der Umsatz aus dem Geschäftsjahr bei 140 Millionen Euro. Ein Plus von 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. An 260 Standorten sind 1.200 Mitarbeiter beschäftigt. Die Bilanz über die letzten Jahre kann insofern nur positiv ausfallen.
LUKAS SCHINKO • Die Basis ist und war keine Selbstverständlichkeit. Damals war ich 24 Jahre jung und wollte das erfolgreiche Lebenswerk der Familie weiterführen. Ausschlaggebend war auch, dass mich unsere Mitarbeiter gut aufgenommen haben und wir gemeinsam eine Vision hatten und haben. Die Zahlen und das Volumen waren dabei gar nicht so eine elementare Größe, weil ich da hinein- und in weiterer Folge auch mitgewachsen bin. Dennoch wurde es mit der zunehmenden Expansion auch ein wenig abstrakter. Man kann aufgrund des Volumens nicht mehr bei jedem Standort ganz nah dabei sein und agieren. Parallel dazu weitet sich der Horizont stetig. Ein Thema der vergangenen Jahre war, dass der Wunsch nach Sicherheit zugenommen hat und es ganz wichtig war, bei den Menschen zu sein. Rückblickend war es insofern
eine wichtige Entscheidung, dass wir die Organisation und die Prozesse strukturiert und notwendige Justierungen in den letzten zehn Jahren erfolgreich umgesetzt haben.
Hören ist Geschmacksache, pure Emotion und bringt Farbe ins Leben. Wir wollen gutes Hören mit einem positiven Zugang und auf ganz persönliche Weise begleiten.
Als Paula Neuroth 1907 den Grundstein für das Unternehmen legte, wollte sie aus ihrer Schwerhörigkeit und Isolation mit Hörgeräten in ein besseres Leben. Sie sprechen immer noch von einer gewissen Hemmschwelle, Hörgeräte zu verwenden. Gleichzeitig ist laut internationalen Schätzungen nur jeder vierte Betroffene mit Hörgeräten versorgt.
LS • Diese angesprochene Hemmschwelle ist immer noch da. Deshalb wollen wir auch in der Kommunikation die positive Energie und die Stärke des Hörens forcieren. Ist der Hörverlust da, dann sollte man über seinen Schatten springen und etwas tun. Hören ist Geschmacksache, pure Emotion und bringt Farbe ins Leben. Wir wollen gutes Hören mit einem positiven Zugang und auf ganz persönliche Weise begleiten. Schlechtes Hören und mindere Akustik macht müde, unkonzentriert und beansprucht die Hirnleistungen. Fakt ist auch, dass es bei einer Hörminderung verhältnismäßig lange dauert, bis der Punkt erreicht ist, in dem man handelt, weil man etwa einer Konversation nicht mehr folgen kann. Dabei kann man in unseren Fachinstituten jederzeit einen Hörtest machen oder ein Hörgerät testen. Unser Angebot des unverbindlichen Probetragens von Hörgeräten basiert auf dem Motto: „Keine Scheu. Einfach ausprobieren.“ Denn eine gute Akustik ist Stütze und täglicher Begleiter. Man muss das gute Hören ja auch wieder trainieren und das kann über Wochen gehen. Fakt ist, dass man mit diesem unterstützten Training früh beginnen sollte.
Seit kurzem ist die Neuroth-Gruppe auch in Bosnien-Herzegowina aktiv. Auch in Serbien wurden die Fachinstitute heuer auf neun Standorte ausgebaut. Der Fokus liegt verstärkt auch in Bayern. In den Märkten Schweiz, Liechtenstein, Kroatien und Slowenien ist man zudem schon seit Jahren aktiv. Wie weit will die Neuroth-Gruppe in Zukunft hörbar sein?
LS • Wir wollen uns vor allem auf Südosteuropa und Bayern konzentrieren. In Deutschland sind wir im Norden auch unter dem Markennamen „Audea“ präsent. Hören ist Persönlichkeit und damit verbunden ist auch eine Form des kulturellen Miteinanders. In der Vergangenheit haben wir gesehen, dass unsere Unternehmenskultur in Süddeutschland, der Schweiz und Südosteuropa sehr gut ankommt. Das hat vielleicht auch etwas mit dem steirischen Schmäh zu tun. Letztendlich müssen die Partner und Kunden vor Ort sich mit unserer Philosophie gut aufgehoben fühlen. In unseren Überlegungen haben wir Südosteuropa immer als eine gesamtheitliche Region gesehen und da gehört Bosnien und Herzegowina selbstverständlich dazu. Als Unternehmen wurden wir in dieser Region sehr herzlich aufgenommen und das Geschäft floriert. Die Menschen dort schätzen die österreichische Qualität, die wir mitbringen. Sie sehen auch, dass wir dadurch die lokalen Unternehmen auf ein gewisses Niveau mitentwickeln.
Unsere Mitarbeiter führen oft Hunderte Gespräche mit ihren Kunden und viele Akustiker sprechen von ihrer Arbeit als schönsten Beruf, den es gibt.
Mit dem Kompetenzzentrum hier in Lebring wurde vor zwei Jahren eines der größten Hörakustik-Labore Europas eröffnet. Produktion und Werkstatt sind hier ebenso angesiedelt sowie Logistik, die Medizintechnik-Sparte und die Neuroth Academy. Was passiert dort?
LS • In unserer Akademie können wir unsere Akustiker und Lehrlinge durch die Nähe zur Produktion sehr praxisnahe ausbilden. Der Bedarf an kompetenter Fachberatung steigt. Deshalb haben wir nun auch mit dem Hörberater ein eigenes Berufsbild ergänzend zum Akustiker geschaffen. In erster Linie geht es immer um die Bedürfnisse des Kunden, aber wir wollen ihn nicht nur technisch, sondern auch emotional erstklassig begleiten. Da geht es viel um das Verständnis in Bezug auf Leidensdruck und zwischenmenschliche Kommunikation. Bekanntlich ist die Anatomie des Menschen individuell und deshalb ist es wichtig, unsere Kundinnen und Kunden bei der Hand zu nehmen und sich mit ihnen auszutauschen. Unsere Mitarbeiter führen oft Hunderte Gespräche mit ihren Kunden und viele Akustiker sprechen von ihrer Arbeit als schönsten Beruf, den es gibt. Weil sie einen Großteil ihrer Zeit dafür aufwenden, den Menschen ihre Lebensqualität zurückzugeben.
Hier in Lebring werden auch die Otoplastiken, also Ohrpassstücke produziert. Wie gestaltet sich der Prozess dazu? Welche Techniken, Materialien und welcher Ausbildung bedarf es?
LS • Der in den Fachinstituten abgenommene Ohrabdruck wird mittels Laserverfahren eingescannt, danach werden die Hörgeräte-Schalen am Computer modelliert und in der Folge mit 3-D-Druckern schichtweise geformt. Danach wird jedes Produkt in Handarbeit nachbearbeitet. Was folgt, ist der präzise Einbau der Technik je nach den persönlichen Bedürfnissen des Kunden. Die Anforderungen an Technik und Mitarbeiter sind dabei umfangreicher geworden, weil die Verwendung mittlerweile auch schon über Spotify, Handy, Bluetooth oder das Navigationssystem des Autos erfolgt. Diesen Herausforderungen begegnen wir aber nicht nur mit technischen Komponenten, sondern auch mit sozialer Kompetenz, indem wir unseren Kunden auch erklären können, was für sie alles möglich ist. Dahingehend wollen wir mit den Menschen noch mehr kommunizieren und ihre Wünsche und täglichen Gewohnheiten im Sinne des Hörens stärken. In diesem Punkt muss man auch unseren Mitarbeitern ein Kompliment aussprechen und ihnen Respekt für ihre tägliche Arbeit zollen. Das gilt meiner Meinung nach für alle Dienstleister.
„Ein Thema der vergangenen Jahre war, dass der Wunsch nach Sicherheit zugenommen hat und es ganz wichtig war, bei den Menschen zu sein.“
Sie sind selbst Hörakustik-Meister, haben davor die HTL für Elektrotechnik absolviert. Ihr Bruder leitet den Aufsichtsrat des Unternehmens. Sie sind der Jüngste von drei Geschwistern. Wie kam es, dass Sie das Ruder übernommen haben?
LS • Obwohl wir über hundert Jahre als Unternehmerfamilie agiert haben, gab es von unseren Eltern keinen Druck bezüglich der Übernahme. Bei mir war der Sachverhalt aber schon während meiner Schulzeit ziemlich klar: Mathematik und Technik interessierten mich damals schon und im Unternehmen war die Elektrotechnik stark verankert. Deshalb kam von mir aktiv auch die Aussage: „Ich will das machen.“ Für das Vertrauen, das mir die gesamte Familie damals geschenkt hat, bin ich heute noch dankbar. Große Entscheidungen treffen wir im Konsens.
Das Durchschnittsalter ihrer Kunden liegt bei ca. 70 Jahren. Warten die Menschen mit dem Weg zu Ihnen einfach zu lange? Es gibt ja bei Neuroth eigens ausgebildete Pädakustiker, die Kinder mit Hörminderungen optimal in ihrer Entwicklung unterstützen. Wird das Ohr eigentlich stiefmütterlich behandelt?
LS • Hören ist extrem wichtig – vor allem für die Entwicklung eines Kindes. Deshalb führen Ärzte und Spezialisten in der Klinik nach der Geburt auch eigene Screenings durch, für die wir uns damals stark gemacht haben. Unsere Medizintechnik-Sparte stattet übrigens auch viele Fachärzte und Kliniken mit dem nötigen audiologischen Equipment aus. In Wien haben wir für Kinder einen eigenen Standort, der von meiner Cousine Heidi Neuroth mit viel Engagement und Leidenschaft geleitet wird. Generell gibt es in unserer Gesellschaft aber noch viel Aufklärungsbedarf rund um das Thema Hörminderung. Statistiken belegen, dass die Menschen global gesehen zwischen sieben und zehn Jahre warten, bevor sie aktiv gegen ihre Hörminderung vorgehen. Im Schnitt haben weltweit 16 bis 20 Prozent ein Problem mit dem Hören. Fakt ist aber auch, dass ein Großteil der Menschen visuelle Typen sind. Man stelle sich aber nur vor, man sieht sich einen Action-Film ohne Ton an. Die Technik der Hörgeräte hat sich in den letzten 115 Jahren stetig weiterentwickelt, aber die Grundphilosophie von Paula Neuroth ist seit 1907 die gleiche geblieben: Raus aus der sozialen Isolation und hinein in ein besseres Leben. Das ist die Hörstärke, die wir Menschen geben wollen.
Fotos: Conny Leitgeb