Grazetta

PATIENT Gesundheitssystem

Das Gesundheitssystem muss reformiert werden, sagen alle Beteiligten. Intelligente Lösungen gäbe es genug. Aber Emotionen und Standesinteressen stehen überfälligen Eingriffen im Weg.

Bedrohlich, kaum noch haltbare Zustände, wir steuern auf einen Crash zu“, wer in den letzten Wochen Berichte über die Situation der österreichischen Gesundheitsversorgung verfolgt hat, der bekam es mit der Angst zu tun. „Wenn alles so weitergeht wie bisher, dann fahren wir das System gegen die Wand“, warnte auch Gesundheitsminister Johannes Rauch.

Vergleicht man die Leistungen des österreichischen Gesundheitssystems mit dem anderer EU-Länder, dann sind die Kassandra-Rufe kaum zu verstehen: Stichwort Ärztemangel: In Österreich kommen fünf Ärzte auf 1.000 Einwohner, in Deutschland und in der Schweiz sind es vier. Stichwort Spitalsbetten: Auch hier liegt Österreich im europäischen Spitzenverhältnis, wenn es um das Verhältnis Betten und Einwohnerzahl geht. Das gilt auch für die Gesundheitsausgaben pro Kopf der Bevölkerung: Mit 4.100 Euro pro Mann und Nase liegt Österreich um 900 Euro über dem EU-Durchschnitt. Das Europäische Observatorium für Gesundheitssysteme attestiert Österreich sogar, dass es hierzulande „einen der niedrigsten unerfüllten Bedarfe an medizinische Versorgung innerhalb der EU“ gibt und dass „das Gesundheitssystem in Österreich effektiver ist als in den meisten anderen EU-Ländern“.

Dass das Gesundheitssystem trotzdem dringend reformiert werden muss, dazu raten nicht nur die EU-Experten, sondern auch alle Stakeholder des Systems von der Gesundheitskasse bis hin zur Ärztekammer und das seit Jahren. Das Problem ist nur, dass kaum ein Politikbereich so kompliziert organisiert ist, wie jener der Gesundheitsversorgung. Das mache die Steuerung „extrem schwierig“, sagt etwa der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. Zwischen Bund und Ländern aufgeteilte Zuständigkeiten und die Macht der Kammern mache das System reformresistent und träge.

Frank Michael Amort, Professor für öffentliche Gesundheit an der FH Joanneum in Bad Gleichenberg, relativiert den Alarmismus, der die Berichterstattung seit Wochen beherrscht: „Das hat auch mit Lobbying für Partikularinteressen zu tun“, sagt er. Zwischen Bund, Ländern und Gemeinden laufen nämlich gerade Verhandlungen über den Finanzausgleich und damit auch darüber, wer welche Ausgaben im Gesundheitswesen bezahlen muss. Aber auch Amort betont, dass das System generalüberholt werden muss. Vor allem deshalb, weil das System zu wenig auf Prävention und Gesundheitskompetenz der Bevölkerung ausgerichtet ist. Denn auch wenn das österreichische System zu den besten Europas gehört, um die Gesundheit der Einwohner ist es weniger gut bestellt. Auch das zeigt der EU-Vergleich: Die Lebensjahre, in denen Frauen und Männer in Österreich gesund sind, liegt mit 58 Jahren bei Frauen und 57 Jahren bei Männern deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 65 beziehungsweise 64 Jahren.

Ein zweiter dringender Reformauftrag ist laut Amort die Einführung einer bundesweit einheitlichen Patientensteuerung. „Patienten sind verliebt in ihre Spitäler“, sagt er. „Man geht nicht zum praktischen Arzt, sondern gleich ins Spital oder zum Facharzt.“ Auch wenn das nur in den wenigsten Fällen notwendig ist.

Wie groß diese „Spitalsverliebtheit“ ist, zeigt auch das Beispiel Steiermark, wo die Schließung von Spitälern in Bad Aussee, Rottenmann und Schladming Bevölkerung wie Bürgermeister gleichermaßen auf die Palme bringt und im Landtag Gesundheitslandesrätin Juliane Bogner-Strauß (ÖVP) einen Misstrauensantrag von der FPÖ einbrachte. Der Steirische Gesundheitsplan 2035 sieht als Ersatz für die kleinen Spitäler die Errichtung eines Leitspitals in Liezen vor, das die Region Hochsteiermark versorgen soll. Dass eine Konzentration absolut sinnvoll sei, betont nicht nur die zuständige Landesrätin, sondern auch Klaus Zenz, SPÖ-Landtagsabgeordneter und Gesundheitssprecher: „Für komplexe medizinische Eingriffe braucht es hohe Fallzahlen. In den kleineren Spitälern werden diese nicht erreicht, was der Qualität abträglich ist. Das ist nicht im Interesse der Patienten.“

„Das österreichische
System investiert
zu wenig in Prävention
und in Gesundheitskompetenz
der Menschen.“

FRANZ MICHAEL AMORT
Public-Health-Experte

„Für komplexe medizinische
Eingriffe braucht es

hohe Fallzahlen in den Spitälern.“

KLAUS ZENZ
Landtagsabgeordneter (SPÖ)

Dass das Spital bei der Patientenversorgung für weniger komplexe Behandlungen nicht die Anlaufstelle Nummer eins sein sollte, darin herrscht unter Experten große Einigkeit. „Wenn man mit einem verkühlten Kind nicht zum Hausarzt geht, sondern gleich in die Kinderklinik, dann verstopft man damit das System zu Lasten von jenen, die tatsächlich so eine qualitativ hochwertige Versorgung brauchen“, sagt Zenz. „Wir brauchen in Österreich daher dringend
ein System, das Patienten berät und an die adäquate Einrichtung schickt.“

Dieser öffentliche Wegweiser durch das Gesundheitssystem sei umso dringender, als demografische Faktoren, wie Bevölkerungswachstum, Überalterung der Gesellschaft und Personalknappheit in allen Bereichen der Versorgung einen effizienteren Umgang mit den Ressourcen geradezu erzwingen. Die Gesundheitshotline 1450, die sich während der Corona-Pandemie bewährt hat, wäre ein mögliches Instrument, den Ansturm auf die Spitalsambulanzen zu bremsen. Eine wichtige Aufgabe hätten dabei auch die allseits gelobten Primärversorgungszentren. Das sind Praxisgemeinschaften, in denen Ärzte verschiedener Fachrichtungen, Community Nurses und medizinisches Fachpersonal wie Physiotherapeuten unter einem Dach zusammenarbeiten. Diese Einrichtungen haben neben dem multidisziplinären Versorgungsangebot noch einen weiteren Vorteil: Sie kommen dem Wunsch vieler, vor allem junger Ärzte entgegen, nicht wie die Generation vor ihnen in ihren Praxen 60 Wochenstunden und mehr arbeiten zu müssen. Primärversorgungseinrichtungen (PVE) können aufgrund ihrer Organisationsform längere Öffnungszeiten anbieten. „Es wäre doch gut, wenn diese PVEs, so wie Apotheken, auch am Samstagvormittag offen hätten“, fordert Amort.

Der Ausbau der PVEs ist das erklärte Ziel des Österreichischen Strukturplans Gesundheit“ (ÖSG), auf den sich alle Stakeholder verständigt haben. Aber der Aufb au verläuft schleppend, auch in der Steiermark. Aktuell gibt es in der Steiermark 13 dieser Zentren, bis zum Jahr 2025 sollen es 40 sein. Was wohl nur schwer zu erreichen sein wird. Der Grund: „Die Ärztekammer ist nicht gerade der größte Unterstützer der PVEs“, sagt Public-Health-Experte Amort diplomatisch. Die Kammer befürchtet nämlich, dass die PVEs den niedergelassenen Ärzten die Patienten und damit die Einnahmen wegnehmen.

Für den Gesundheitssprecher der steirischen SPÖ im Landtag, Klaus Zenz, ist der Mangel an Pflegepersonal das schwerwiegendste Problem im System: „Wir werden bis 2030 70.000 zusätzliche Pflegekräfte brauchen, in den Spitälern, aber vor allem in der Altenbetreuung. Davor hat man in den letzten Jahrzehnten einfach die Augen verschlossen.“ Ein Mangel, den man seiner Meinung nach nicht mit der Anwerbung von Pflegekräften im benachbarten Ausland beheben kann: „Das ist längst ausgereizt“, sagt er. Was es seiner Meinung nach braucht, sind Verbesserungen in drei Bereichen: Bessere Arbeitsbedingungen, eine angemessenere Bezahlung und eine Entlastung bei Verwaltungs- und Dokumentationsarbeiten durch administratives Personal. Zenz glaubt auch nicht, dass es in Österreich zu wenig Ärzte gebe. „Wir hatten nie zuvor so viele Ärzte wie heute“, betont er. „Was dem System zu schaffen macht, ist, dass wir mehr Wahlärzte als Kassenärzte haben. Das bringt die Versorgungssicherheit in Gefahr.“ Er fordert, dass auch Wahlärzte E-Card-Patienten übernehmen sollen. Da mit wohlhabende Patienten nicht schneller versorgt werden würden als jene, die auf Kassenärzte angewiesen sind.

Klar scheint jedenfalls, dass es bei der Reform um einen großen Wurf geht: Um neue Instrumente, wie den verstärkten Einsatz von Community Nurses, um einen Ausbau der Telemedizin und um Investitionen in Vorsorge und Prävention. Der Public-Health-Experte Frank Michael Amort würde sich auch eine stärkere Einbindung der Patienten in die Debatte um die Ausrichtung des Gesundheitssystems wünschen. Sie sollten im Zentrum der Reform stehen.

Fotos: istock / IPGGutenbergUKLtd, FH Joanneum, Peter Drechsler

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