Grazetta

Verletzte Seelen

Auch nach dem Ende der Pandemie bleibt die Anzahl psychisch kranker Kinder und Jugendlicher hoch. Grazetta hat mit Experten über die Ursachen gesprochen und sie gefragt, wie Eltern sie in schwierigen Zeiten unterstützen können.

Jedes dritte 17jährige Mädchen und zehn Prozent der Buben sagen, dass sie sehr oft niedergeschlagen sind, dass sie Angstgefühle haben und sich Sorgen um die Zukunft machen. Je älter die Jugendlichen sind, umso öft er sagen sie, dass sie sich überlastet fühlen. Diese Zahlen präsentierte 2023 die Health Behavior in School-aged Children (HBSC) Studie, die 7.099 Kinder und Jugendliche befragt hatte. Seit 2010 untersuchen die Autoren der Studie die Gesundheit der Zehn- bis Siebzehnjährigen. Ihr Resümee: Seit 2014 nimmt die Lebenszufriedenheit der Heranwachsenden kontinuierlich ab. Die schulischen Anforderungen werden zunehmend als Belastung empfunden.

„Das Leben junger
Menschen ist von
Unsicherheit geprägt.“

CAROLINE CULEN
Geschäftsführerin der Österreichischen
Liga für Kinder- und Jugendgesundheit

Dass die hohen Prävalenzen von Depression, Angstzuständen und Sorgen um die eigene Zukunft vor allem auf die Pandemie zurückzuführen seien, ist unter Experten umstritten. Erhob doch 2017 die erste in Österreich durchgeführte Studie zur psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen bereits, dass ein Viertel der Jugendlichen psychisch krank war. Studienleiter Andreas Karwautz von der MedUni Wien stellte vor allem „Angststörungen, Störungen der psychischen und neuronalen Entwicklung und depressive Störungen“ fest. Wie also sind diese Zahlen zu bewerten? Birgit Seidl, Klinische Psychologin am Grazer Frauengesundheitszentrum, nennt mehrere Ursachen: „Jugendliche sprechen heute offener über psychische Probleme und die Gesellschaft ist in dieser Hinsicht zum Glück sensibler geworden“, sagt sie. Wirklich auffallend sei aber, dass der Anstieg psychischer Erkrankungen mit der Einführung der Smartphones Anfang der 2010er Jahre zusammenfalle. Mit diesen Handys steigt die Internet-Nutzung rapide an, was auch die HBSC-Studie belegt. Bis zu fünf Stunden pro Tag bei rund 40 Prozent der Heranwachsenden. „Im Kindesalter lernen wir durch Begreifen, Anfassen und Spüren“, erklärt Seidl. „Fehlen diese Lernschritte, dann schadet das der Entwicklung des Gehirns.“

Dass Corona nicht die Hauptursache für die zunehmende psychische Verletzlichkeit der Heranwachsenden ist, bestätigt auch Caroline Culen, Geschäftsführerin der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit: „Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat bereits 2017 festgestellt, dass Depressionen und andere psychische Erkrankungen die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte sein werden, bei Erwachsenen ebenso wie bei Kindern und Jugendlichen.“ Die Klinische Psychologin Culen sagt aber auch, dass sich die Lebensumstände junger Menschen in den vergangenen beiden Jahrzehnten verändert haben: „Ihr Leben ist von Unsicherheit geprägt, von Krieg und Klimakrise und der Frage, wie sie in zwanzig Jahren leben werden. Und das ist ein weltweites Phänomen.“

„Wir bauen die psychische
Versorgung massiv aus.“

KARLHEINZ KORNHÄUSL
Gesundheitslandesrat

Wie sehr sich Heranwachsende die Krisen der Gegenwart zu Herzen nehmen, bestätigt der Grazer Familienbericht 2023. Als belastend empfunden wird die Teuerung (77 Prozent), die Klimakrise (59 Prozent), Menschenrechtsverletzungen (54 Prozent) und der Krieg in der Ukraine (44 Prozent). Was alle Studien aber auch zeigen: Mädchen sind gefährdeter als Buben, wenn es um psychische Erkrankungen geht. Die Gründe dafür sind vielfältig. „Mädchen erleben sich als weniger selbstwirksam, sie leisten öfter als Buben Care-Arbeit.“, sagt die Psychologin Birgit Seidl. „Und nicht zu vergessen, der Wunsch, Schönheitsidealen zu entsprechen, die Influencerinnen auf Instagram und Tiktok propagieren.“

Optimistischer in ihrer Einschätzung der psychischen Gesundheit der jungen Menschen ist Isabel Böge. Sie leitet die Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der MedUni Graz und am LKH Süd. „Die im Rahmen der Pandemie sprunghaft gestiegenen Prävalenzen haben ein Plateau erreicht“, sagt sie. „Ich vermute, dass sie in den nächsten Jahren eher wieder leicht zurückgehen werden, sofern hinreichend Behandlung vorgehalten werden kann.“ Man könne nicht einfach abwarten. Denn das Gesundheitssystem zeigt bei der psychiatrischen Versorgung der Kinder und Jugendlichen große Lücken. Wartezeiten von drei bis vier Monaten sind die Regel. Hinzu kommt, dass nur drei der 16 Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Steiermark auf Krankenschein behandeln. 13 davon haben ihre Ordination in Graz.

„Exzessive Nutzung
sozialer Medien gefährdet
die Gehirnentwicklung.“

BIRGIT SEIDL
Klinische Psychologin am
Frauengesundheitszentrum Graz

„Die Situation bereitet mir seit Jahren große Sorgen“, sagt Karlheinz Kornhäusl, steirischer Landesrat für Gesundheit. „Deshalb haben wir das Budget für diesen Bereich auch massiv aufgestockt. Mit dem Geld wird die sozialpsychiatrische Versorgung ausgebaut.“

Kornhäusl setzt aber nicht nur auf mehr Spitalsbetten, sondern auch auf neue Wege bei der Behandlung: „Wir sind gerade dabei, multiprofessionelle Teams zu bilden, die Kinder und Jugendliche zuhause in ihrer vertrauten Umgebung behandeln. Als ersten Schritt in Graz, in einem zweiten in der gesamten Steiermark. Darüber freue ich mich sehr.“

Zuständig für den Aufbau dieser neuen Versorgungsschiene ist Isabel Böge. Sie hat bereits 2011 ein ähnliches Versorgungsmodell in Deutschland entwickelt. „Das System hat den Vorteil, dass das soziale Umfeld miteinbezogen werden kann“, betont sie. In der ersten Jahreshälfte 2024 wird das erste Team einsatzbereit sein und Patienten betreuen, bei denen eine Aufnahme ins Spital notwendig wäre. Vier- bis sechsmal in der Woche wird das Team ihre Patienten besuchen. „Wir wissen aus deutschen Studien, dass das Hometreatment gleich wirksam wie eine stationäre Behandlung ist“, erklärt sie. „Hinzu kommt, dass man mit dieser Versorgungsform den Übergang von einer stationären zu einer ambulanten Behandlung erleichtert.“

„Hometreatment ist
ein vielversprechender
Behandlungsweg.“

ISABEL BÖGE
Kinder- und Jugendpsychiaterin

Einig sind sich aber alle Experten darin, dass Eltern Anzeichen von psychischen Veränderungen bei ihren Kindern ernst nehmen sollen. Denn je früher Symptome erkannt werden, umso besser sind sie zu behandeln. „Ein wirksamer Weg, Kinder und Jugendliche im Umgang mit Ängsten und Zukunftssorgen zu unterstützen, ist das Gespräch“, sagt Birgit Seidl. „Nehmen wir das Beispiel Klimakrise: Eltern sollten altersgerecht informieren und Möglichkeiten vorschlagen, wie sie selbst mit ihren Kindern aktiv werden können. Das Wichtigste ist, den Kindern das Gefühl zu vermitteln, etwas bewirken zu können.“ Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang davon, die Selbstwirksamkeit der jungen Menschen zu stärken, zu vermitteln, dass sie Krisen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern dass sie ihr Leben selbst gestalten können.

WEITERE INFORMATIONEN UND UNTERSTÜTZUNGSANGEBOTE:

Das Frauengesundheitszentrum Graz bietet  kostenlose Beratung an. Im Rahmen des Projekts  „Selbstwert plus“ gibt es Workshops für  Schülerinnen und Fortbildungsangebote.  www.frauengesundheitszentrum.eu/selbstwert/

Die Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit hat die kostenlose Toolbox TOPSY als Unterstützung für Menschen in der Jugendarbeit entwickelt.

www.kinderjugendgesundheit.at/themenschwerpunkte/topsy/

Fotos: Michaela Pfleger, Matthias Wieser, LKH, Louis Harmer, Parlamentsdirektion/Thomas Topf

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