Grazetta

Die Kraft der Mitte

Der Darm ist viel mehr als ein Verdauungssystem. Grazer Mediziner untersuchen die Verbindung von Darm und Gehirn und hoffen auf vielversprechende Behandlungsmöglichkeiten bei schweren psychischen Erkrankungen.

Wer kennt die Redewendung nicht von den Schmetterlingen im Bauch? Wer sagt manchmal nicht: „Das hat sich mir auf den Magen geschlagen?“ Unsere Sprache weist schon lange darauf hin, dass zwischen Verdauung und Gefühlen eine Verbindung besteht. Eine Verbindung, die in der medizinischen Forschung inzwischen eine sehr große Rolle spielt: „Den Darm nur als reines Verdauungsorgan zu sehen, diese Sichtweise hat die Medizin überwunden“, sagt Christoph Lipp, Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie an der Privatklinik Kastanienhof. „Heute spricht man von einer Achse, die Gehirn und Darm miteinander verbindet.“ Diese Verbindung gilt als vielversprechender Ansatz für die Erforschung einer Vielzahl von Erkrankungen, vom sogenannten Reizdarmsyndrom bis hin zu schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen. „Wir beschäftigen uns derzeit mit der Frage, ob die Kommunikation zwischen Darm und Gehirn auch bei psychiatrischen Erkrankungen eine Rolle spielen könnte“, sagt Aitak Farzi, Fachärztin für Pharmakologie an der Meduni Graz. Eine Hypothese des Forschungsteams: Das Immunsystem könnte dabei eine Rolle spielen. „Das Darmmikrobiom, also diese Vielzahl an Bakterien und anderen Mikro-Lebewesen, ist für die Entwicklung des Immunsystems von großer Bedeutung“, erklärt sie. Nachgewiesen wurde diese Verbindung durch Experimente unter anderem an Mäusen: Tiere, die in einer sterilen Umgebung aufgewachsen sind, zeigten ein deutlich unterentwickelteres Immunsystem als die Kontrollgruppe.

Was man inzwischen auch weiß, ist, dass bei depressiven Patienten gewisse Entzündungsmarker erhöht sind. „Es könnte also sein, dass das Darmmikrobiom Entzündungsprozesse fördert, die Einfluss auf die Stimmung haben“, erklärt Farzi. Im Darm- Mikrobiom werden aber auch sogenannte Metaboliten, also Stoffwechselprodukte erzeugt, die Auswirkungen auf das Gehirn haben könnten. Peter Holzer ist Professor für translationale Neurogastroenterologie, also für die Erforschung der neuronalen Aspekte des Magen-Darm-Trakts. Als translational wird eine Grundlagenforschung bezeichnet, die auf das Verständnis und die Behandlung von Krankheiten ausgerichtet ist. „Besonders in der Erforschung des Reizdarmsyndroms ist die Verbindung zwischen dem Magen-Darm-Trakt und dem Gehirn sehr wichtig geworden“, betont Holzer. „Denn die Frage, ob es sich bei dieser Erkrankung um eine Krankheit des Magen-Darm-Trakts oder des Gehirns handelt, ist immer noch offen. Die Wahrheit wird wohl in der Mitte liegen.“ Klar ist jedenfalls, dass bei dieser weit verbreiteten Krankheit die Kommunikation zwischen Darm und Gehirn gestört ist. Das in manchen Fällen sehr schmerzhafte Reizdarmsyndrom habe jedenfalls viel mit Stress und psychischen Belastungen zu tun. „Änderungen im Gehirn führen zu Änderungen im Nervensystem und damit auch zu Funktionsänderungen im Darm“, sagt Holzer. „Wir haben es daher mit einer sehr komplexen Erkrankung zu tun. Auch eine Übersensibilität bei der Schmerzempfindlichkeit dürfte dabei eine Rolle spielen.“

„Man kann mit gesunder Ernährung und möglicherweise auch durch die Gabe von
Prä- und Probiotika psychische Erkrankungen beeinflussen.“

CHRISTOPH LIPP
Internist

Mikrobiom-Forschung
Dass das Mikrobiom, also diese Vielzahl an kleinen Lebewesen, mit denen der Mensch zusammenlebt, dabei eine Rolle spielt, hält Holzer für sehr wahrscheinlich. Unklar ist aber, ob diese Lebensgemeinschaft bei psychischen Erkrankungen eine Rolle spielt. „Da ist trotz der intensiven Erforschung des Mikrobioms noch nicht viel weitergegangen“, räumt Holzer ein.

Ähnlich vorsichtig ist auch Aitak Farzi: „Es gibt noch keine echten Beweise, es könnte schon sein, dass einzelne Stoffwechselprodukte Auswirkungen auf psychische Erkrankungen haben, dass sie eine Art Ungleichgewicht erzeugen. Aber da ist die Forschung noch nicht sehr weit.“ Christoph Lipp von der Privatklinik Kastanienhof ist neben seinem Fachgebiet der Inneren Medizin auch Ernährungsmediziner. Er ist überzeugt davon, dass die Ernährung Auswirkungen auf die Darm-Hirn-Achse hat; „Studien zeigen, dass Patienten mit Angststörungen und Depressionen zu ungesunder Ernährung neigen. Es gibt umgekehrt auch den spannenden Ansatz, dass man mit gesunder Ernährung und möglicherweise auch durch die Gabe von Prä- und Probiotika diese Erkrankungen beeinflussen kann.“ Dieser Ansatz sei durchaus vielversprechend, umso mehr, als man bei depressiven Patienten keinen Einfluss auf Ursachen der Erkrankung wie die genetische Veranlagung oder den sozialen Status nehmen könne. „Es gibt aber Studien, die nachgewiesen haben, dass die Gabe von Probiotika in Kombination mit einem Anti-Depressivum die Stimmung der Patienten verbessern kann.“

„Beim Reizdarmsyndrom
ist die Kommunikation
zwischen Darm
und Gehirn gestört.“

PETER HOLZER
Neurogastroenterologie

Probiotika
Peter Holzer ist skeptischer, was die Verabreichung von Probiotika an psychisch kranke Menschen betrifft: „Ernährungsberatung halte ich für sehr wichtig“, räumt Holzer ein. „Aber wie man mit Prä- oder Probiotika auf das Mikrobiom einwirken kann, ist nicht geklärt.“ Sein Argument: „Wir wissen, dass das Mikrobiom individuell ist, aber wie man es beeinflussen kann, wie ein ideales Mikrobiom aussehen muss, das wissen wir nicht.“ Behandlung mit Prä- oder Probiotika vergleicht er daher mit einem „Blindflug“: „Bei manchen psychiatrischen Patienten gibt es eine Verbesserung, bei anderen nicht.“

„Das Darmmikrobiom, also
diese Vielzahl an Bakterien
und anderen Mikro-Lebewesen,
ist für die Entwicklung des Immunsystems von großer Bedeutung.“

AITAK FARZI
Pharmakologin

Aitak Farzi stimmt Holzer zu: „Es gibt zwar Studien dazu, aber dabei wurden verschiedene probiotische Stämme verwendet“, sagt sie. „Die Studien sind also zu heterogen, die Zahl der Probanden bis jetzt war zu gering, um Probiotika in der Therapie von Depressionen klar empfehlen zu können.“

Bleibt die Frage, ob es sinnvoll ist, auch gesunden Menschen Probiotika als Nahrungsergänzungsmittel zu empfehlen, wie die Werbung suggeriert. Peter Holzer gibt darauf eine differenzierte Antwort: „Probiotika haben keine schlimmen Nebenwirkungen“, erklärt er. „Aber wenn ein Patient eine entzündliche Erkrankung hat, könnte es durchaus gefährlich sein, dem Körper zusätzliche Fremdorganismen zuzuführen.“ Hinzu komme, dass die in Probiotika enthaltenen Bifidobakterien nur einem sehr kleinen Teil des Mikrobioms entsprächen. „Da fehlt mir die Logik, dass man damit etwas Entscheidendes bewirken kann.“ Probiotika hätten bei Menschen, die den Behauptungen der Hersteller Glauben schenken, vielleicht eine Placebo-Wirkung. „Hilft ’s nicht, so schadet’s nicht“, sagt Holzer lakonisch. Ursula Dobrowolski hat in ihrer Arbeit als Psychotherapeutin viel mit Menschen zu tun, die an Depressionen und Angststörungen leiden. Auch sie ist skeptisch, ob die vielfach angepriesenen Probiotika tatsächlich auch dabei helfen. „Populärwissenschaft liche Autoren und Hersteller geben Heilsversprechen ab, die mir durchaus Sorgen machen“, sagt sie, auch wenn sie einräumt, dass der Darm mit der Seele in Verbindung steht. „Ich höre immer wieder, dass eine ayurvedische Darmspülung bei Depression helfen soll. Die mag zwar eine kurzfristige Linderung bringen, an den Ursachen ändert diese Th erapie aber nichts.“ An der Arbeit an den Ursachen von psychischen Erkrankungen führt ihrer Meinung nach kein Weg vorbei. „Psychische Erkrankungen werden oft von einem schweren Verlust ausgelöst oder von Stress im Beruf oder in der Familie. Man wird sich den Ursachen stellen müssen, wenn man diese Krankheiten überwinden will.“

Fotos: MedUni, Kastanienhof, istock / PeopleImages

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