Grazetta

Die ZEITENWENDE

Multiple Krisen stellen gerade unsere Welt auf den Kopf. Das Leben, wie wir es gewohnt waren, scheint vorbei. Und trotzdem gibt es viele Gründe, die tiefgreifende Veränderungen als Chance für die Zukunft zu sehen. Ein neuer Gemeinschaftssinn könnte dabei helfen, sagen Experten.

Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, so brachte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz die Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine auf den Punkt. Die traditionell pazifistisch eingestellten Deutschen finden sich seither mit massiven Waffenlieferungen an die Ukraine ebenso ab wie mit dem deutlich erhöhten Verteidigungsetat. Der Krieg bremst das Wirtschaftswachstum, befeuert die Inflation und macht Angst vor einem Winter, in dem sich möglicherweise Teile der Gesellschaft das Heizen nicht mehr leisten können. Nichts scheint mehr zu sein, wie es war. Wir werden sparsamer leben müssen, dort und da auf ein paar Annehmlichkeiten verzichten müssen. Das fällt nicht allen Menschen leicht, vielleicht auch deshalb, weil viele in Zeiten aufgewachsen sind, in denen Bedürfnisse, wie das neueste Smartphone oder die angesagtesten Turnschuhe umgehend erfüllt werden konnten.

Krisen können nur in der Gemeinschaft mit anderen bewältigt werden.

URSULA ATHENSTAEDT, Psychologin

„Gerade die junge Generation hat wenig Ahnung, wie man mit Bedrohungen umgeht“, betont der Psychiater Christian Probst. „Das liegt auch an der modernen Pädagogik, die Kindern keine Frustrationen mehr zumuten will.“ Probst bezeichnet diesen Zugang als „wehleidige Pädagogik“. Er ist davon überzeugt, dass man damit den Kindern keinen Gefallen tue. „Kinder müssen erleben können, dass Scheitern zum Leben gehört.“ Die Mehrheit der Gesellschaft lebte jahrzehntelang in materieller Sorglosigkeit und ohne existenzielle Bedrohungen. Das Gewohnheitstier Mensch mag Veränderung eigentlich gar nicht. „Wenn die vertrauten Strukturen wegfallen, dann macht das Menschen Angst“, sagt Christian Probst. „Denn Gewohnheiten und Regelmäßigkeiten geben unserem Alltag Struktur und Halt.“ Menschen reagieren auf diesen Sicherheitsverlust recht unterschiedlich: mit Realitätsverweigerung ebenso wie mit der Suche nach Schuldigen. Die Covid-Pandemie hat das recht anschaulich gemacht. „Viele Menschen sind dann empfänglich für Verführer und Verschwörungstheoretiker, die einfache Antworten parat haben“, erklärt Probst. Anstatt sich an Realitätsverweigerung zu klammern, sei es gescheiter zu lernen, mit unangenehmen Dingen zurecht zu kommen. „Man sollte sich fragen, welchen Beitrag man leisten kann, der in die Zukunft führt.“ Was nichts anderes bedeutet, als sich mit der Zeitenwende auseinanderzusetzen und nicht auf „Antworten von außen“ zu warten. Diese Auseinandersetzung bedeutet für Probst, den Gründer des Instituts für Existenzanalyse und Logotherapie, aber auch, den Dialog zu suchen. Nicht bloß Argumente auszutauschen, sondern füreinander offen zu sein und Respekt für die Meinung des Anderen zu zeigen. Sich aktiv mit Veränderung auseinanderzusetzen, sie in Kauf zu nehmen, sei ebenso heilsam wie der respektvolle Dialog. „Das Wesentliche des Menschen entsteht in der Gemeinschaft“, betont Christian Probst.

„Kinder müssen erleben können,
dass Scheitern zum Leben gehört.“

CHRISTIAN PROBST
Psychiater

Dass die Wiederentdeckung von Gemeinschaftssinn und Solidarität helfen, mit den Auswirkungen der Krise fertig zu werden, das betont auch Ursula Athenstaedt. Sie ist außerordentliche Professorin für Psychologie an der Universität Graz. Im Rahmen des EU-Projekts „Energy Citizenship“ sollen Wege gefunden werden, wie sich Bürger an der Energiewende beteiligen können. Athenstaedt untersucht im Rahmen dieses Projekts, wie sich das Energieverhalten beeinflussen lässt, wie psychische Einstellungen und Energieverhalten zusammenhängen. „Entscheidend für unseren Umgang mit Energie sind unsere Wertvorstellungen“, sagt sie. „Wer altruistisch denkt, wer etwas zum Naturschutz beitragen will, wer etwas für andere Menschen tun will, der ist eher bereit, mit Energie verantwortungsbewusst umzugehen.“

Auch Athenstaedt ist davon überzeugt, dass wir unsere Konsumansprüche zurückschrauben werden müssen. „Es geht um freiwilligen Verzicht, um die Einsicht, dass man nicht alles haben muss“, betont sie. Die Psychologin hat in ihren Untersuchungen jedenfalls festgestellt, dass gar nicht so wenige Menschen dazu bereit sind. „Nicht jeden Tag Fleisch zu essen, mit der Bahn statt mit dem Auto zu fahren, damit man einen geringeren CO2-Fußabdruck hinterlässt, dazu sind mehr Menschen bereit, als man denkt.“

„Die Klimaveränderung
zwingt uns zu
gemeinschaftlicher
Verantwortung.“

URSULA ATHENSTAEDT
Psychologin

Für Athenstaedt spielt das Wissen um die Zusammenhänge, wie viel Energie also für die Herstellung eines Produkts notwendig ist, eine große Rolle. „Das beste Beispiel dafür ist der Klimarat“, erklärt Athenstaedt. 84 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Österreicher haben im Auftrag der Bundesregierung gemeinsam mit dem Klimaforscher Georg Kaser und der Umweltökonomin Birgit Bednar-Friedl Maßnahmen diskutiert, wie man dem Klimawandel entgegentreten könne. „Am Beginn der Beratungen hat es viel Skepsis gegeben“, erinnert sich Athenstaedt. „Dann haben die Mitglieder eine Art Schnellsiedekurs in Sachen Klimawandel erhalten. Als aktive Energiebürger sind sie aus den Beratungen herausgekommen.“

Was ihrer Meinung auch damit zu tun hat, dass die Mitglieder aus ihrer Isolation heraustreten konnten. „Sie haben eine kollektive Identität entwickelt“, erklärt sie. „Wenn es um Veränderung und deren Bewältigung geht, dann ist das nur in der Gemeinschaft möglich.“

Stünde uns dabei nicht eine Ideologie im Wege, die seit Mitte der 1980er Jahre unser wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Denken dominiert: Der Neoliberalismus und seine Glorifizierung des autonomen Individuums. „Die Klimaveränderung zwingt uns jetzt zur gemeinschaftlichen Verantwortung“, betont Athenstaedt.

Wenn die vertrauten Strukturen wegfallen, dann macht das den Menschen Angst.

CHRISTIAN PROBST, Psychiater

Beispiele für gelungene Gemeinschaftsprojekte sind für die Psychologin die sogenannten Energie-Gemeinschaften: Diese Gemeinschaften produzieren Strom und verteilen diesen auch. Wie zum Beispiel die Hausgemeinschaft Koo&Wo in Eggersdorf. „Diesen Energie-Gemeinschaften gehört die Zukunft“, davon ist Athenstaedt überzeugt. Nicht nur weil Bürger so einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten könnten, sondern auch, weil sich in der Gemeinschaft einge rostete Verhaltensweisen leichter überwinden ließen. Wichtig sei es, die Probleme bei Einspeisung und Speicherung von Strom so schnell wie möglich zu lösen.
„Die Energy Citizenship leistet einen Beitrag zur Selbstermächtigung“, sagt Athenstaedt. „Sie gibt Menschen die Möglichkeit, Hoffnungslosigkeit zu überwinden, mitzugestalten und sich selbst einzubringen. Sie kommen von Ausgeliefertsein ins Tun.“ Handeln, einen Beitrag leisten, sich zusammenschließen, das sind wohl wichtige Instrumente, um die Zeitenwende in den Griff zu bekommen.  

Fotos: Cornelia Leitgeb, privat

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