Die Begabung ihrer Kinder zu erkennen und zu fördern, das wünschen sich wohl alle Eltern. Experten erklären, worauf es dabei ankommt und wie man den Fehler vermeidet, Kinder unter Druck zu setzen.
Jedes Kind ist hoch begabt. Diese provokante These haben der Hirnforscher Gerald Hüther und der Journalist Uli Hauser aufgestellt. Ihr gleichnamiges Buch wurde zum Bestseller. Auch deshalb, weil sich viele Eltern mit der Frage herumschlagen, wie sie Begabungen ihrer Kinder erkennen und fördern können.
Eine Begabung zu erkennen, das ist auf den ersten Blick nicht einfach. Das beginnt bereits mit der Definition dessen, was man unter Begabung oder Talent versteht. „Eine Begabung oder ein Talent ist zunächst die Möglichkeit, später eine besondere Fähigkeit zu erwerben und bestimmte Leistungen zu erbringen, die sich deutlich von dem unterscheiden, was andere auf einem Gebiet sich anzueignen oder zu leisten imstande sind“, schreiben die beiden Autoren. Ähnlich sieht das auch der Neurowissenschaftler Roland Grabner, Professor für Begabungsforschung und Psychologie an der Universität Graz: „Unter Begabung versteht man das Potenzial für eine bestimmte Leistung“, sagt er. „In jungen Jahren erkennt man sie am ehesten durch Beobachtung dessen, wofür sich ein Kind interessiert und wo es große Lernfortschritte macht.“
Hüther und Hauser gehen in ihrem Buch recht kritisch mit dem Schulsystem ins Gericht, wenn es um dessen Fähigkeiten geht, Kinder beim Entfalten ihrer Talente und Interessen zu unterstützen. Schulen würden Leistungsträger produzieren, Begabungen würden mit guten Schulnoten verwechselt. Kinder mit guten Noten hätten eher gelernt, sich Wissen anzueignen und nicht komplexe Probleme zu lösen. Die beiden Autoren führen viele Beispiele für verkannte Genies an. So hat die Pariser Akademie der Schönen Künste den jungen Paul Cézanne abgelehnt, an ihn zu glauben schien nur Cézannes Freund, der Schriftsteller Emile Zola.
Hüther und Hauser appellieren daher recht nachdrücklich an Eltern und Lehrer, die Leistungen der Kinder nicht auf die in der Schule erzielten Noten zu reduzieren.
TREIBSTOFF DES GEHIRNS
Hinter diesem, von jüngeren Begabungsforschern kritisierten Ansatz, steht die Überzeugung des Hirnforschers Hüther, dass jedes Kind mit den gleichen Chancen geboren wird, auf dem einen oder anderen Gebiet Besonderes zu leisten. Begabung habe keine genetischen Ursachen, konstatiert Hüther und argumentiert dies so: Ob sich Nervenzellenvernetzungen stabilisieren oder ob sie verkümmern, das hängt von den Anregungen, Ermutigungen und Belohnungen ab, die das Kind erfährt. „Jede neue Entdeckung, jede neue Erkenntnis und jede Fähigkeit lösen im Gehirn von Kindern für uns Erwachsene einen kaum nachvollziehbaren Sturm der Begeisterung aus. Diese Begeisterung über sich selbst und über all das, was es noch zu entdecken gibt, ist der wichtigste ‚Treibstoff‘ für die weitere Entwicklung des Gehirns.“
Was nichts anderes bedeutet, als dass man dem Kind den Freiraum zum Spielen, Entdecken und Ausprobieren ermöglichen soll. Kinder sollen also selbst bestimmen dürfen, womit sie sich beschäftigen. Damit sie sich die Welt aber spielerisch aneignen können, müssen sie sich geborgen und angenommen fühlen, postulieren Hüther und Hauser. „Wie bei uns Erwachsenen ist auch bei Kindern die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und etwas Neues auszuprobieren, umso größer, je sicherer sie sind und je größer das Vertrauen ist, mit dem sie sich in die Welt hineinwagen. Das Schlimmste, was einem Kind passieren kann, ist der Verlust dieses Vertrauens.“
Begabungen müssen gefördert, Potenziale müssen in Leistungen übersetzt werden. Dafür braucht es Training und Ausdauer.
KATHARINA HEISSENBERGER – LEHOFER
Professorin für Begabungsförderung.
GRAZER STÄRKENPASS
Auch Katharina Heissenberger-Lehofer, Professorin für Praxisforschung und Begabungsförderung an der Pädagogischen Hochschule in Graz, unterstreicht, dass Kinder die Möglichkeit bekommen müssen, sich auszuprobieren. „Man sollte Kindern verschiedene Angebote machen. Sie sollen Sportarten ausprobieren können und Schnupperkurse besuchen dürfen, sie sollen singen, basteln und Denksportaufgaben lösen dürfen. Bei diesem Erproben zeigt sich, für welche Bereiche sich Kinder am meisten interessieren. Dieses besondere Interesse zeigt den Eltern und Lehrern, dass Kinder in diesem Bereich über eine individuelle Stärke oder sogar über eine Hochbegabung verfügen.“
Diesen Zugang empfiehlt auch Roland Grabner von der Universität Graz. Auch wenn er davor warnt, zu viel zu wollen. „Man muss Kindern ihre Kindheit lassen“, sagt er. „Und sie nicht nach der Volksschule noch in drei Kurse schleppen. Denn dann sind die Tage durchgeplant und die Kinder haben keine Gelegenheit mehr, selbstständig zu spielen und kreativ zu sein.“
Roland Grabner, Professor für Begabungsforschung und Psychologie an der Universität Graz: „Kinder genau zu beobachten, hilft, deren Begabungen zu erkennen.“
Katharina Heissenberger-Lehofer, Professorin für Praxisforschung und Begabungsförderung an der Pädagogischen Hochschule in Graz:
„Besondere Interessen zeigen Eltern und Lehrern, dass Kinder in diesem Bereich über eine individuelle Stärke oder sogar über eine Hochbegabung verfügen.“
Grabner verweist im Zusammenhang mit der Aufgabe, Begabungen zu erkennen, auf den Grazer Stärkenpass, an dessen Entwicklung er beteiligt war. Dieser Pass ist nichts anderes als eine Mappe, in der das Kind Dinge sammeln kann, auf das es stolz ist, die ihm Freude machen oder welche Kurse es besucht hat. Die Mappe sollte von der Volksschule bis in die Sekundarstufe geführt werden und als Grundlage für Eltern-Lehrer-Kind-Gespräche dienen. Ein weiterer Vorteil: Die Mappe zeigt gut, wo Interessen über die Jahre hinweg gleichbleiben und wo sie sich verändern.
TRAINING UND AUSDAUER
Katharina Heissenberger-Lehofer verweist auf zwei weitere Tools, mit denen sich Begabungen im kognitiven Bereich erkennen lassen. Da wäre einmal das objektive Verfahren des Intelligenztests, den Psychologen durchführen und der Auskunft über kognitive Hochbegabungen gibt.
Von einer Hochbegabung ist ab einem Intelligenzquotienten von 130 die Rede. Über so einen IQ verfügen 2,3 Prozent der Bevölkerung.
Ein weiteres Diagnose-Instrument hat das Österreichische Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung entwickelt. Dieses Multidimensionale Begabungsentwicklungstool MBET setzt Einschätzungen von Lehrpersonen, Eltern aber auch von Schülern zueinander in Beziehung. Daraus können die entsprechenden Methoden der Förderung abgeleitet werden. „Denn mit der Diagnose ist es ja nicht getan“, sagt Heissenberger-Lehofer. „Begabungen müssen gefördert, Potenziale müssen in Leistungen übersetzt werden. Dafür braucht es Training und Ausdauer.“
Man muss Kindern ihre Kindheit lassen. Und sie nicht nach der Volksschule noch in drei Kurse schleppen.
ROLAND GRABNER
Begabungsforscher
Dass Begabungen, nachdem sie einmal erkannt worden sind, gefördert werden müssen, betont auch Roland Grabner. „Ein musikalisch begabtes Kind braucht Unterricht und muss regelmäßig üben“, erklärt Grabner. „Ohne Training wird die Begabung nicht genützt werden können. Wichtig ist aber auch hier: Das Kind muss das auch wollen.“ Ein Kind, das am Klavierspiel keine Freude hat, werde seine Begabung nicht umsetzen können.
Und wie sieht es eigentlich mit dem weit verbreiteten Vorurteil aus, dass sich Begabungen für Sprache und Mathematik gegenseitig ausschließen?
Roland Grabner verweist diese Meinung in den Bereich der Ammenmärchen. „Man unterscheidet schon drei intellektuelle Begabungsbereiche: die sprachlichen, die numerisch-mathematischen und die visuell-räumlichen“, erklärt Grabner. „Diese drei Bereiche hängen aber zusammen. Besonders intelligente Kinder sind häufig in allen drei Bereichen gut.“ Intelligenz wird in der Psychologie daher auch als allgemeine Leistungsfähigkeit des Gehirns betrachtet.
Als Vorurteil hat sich auch die Ansicht vieler Eltern herausgestellt, Mathematik sei etwas für Buben und Sprachen etwas für Mädchen. „Buben und Mädchen sind in bei- den Bereichen gleich begabt, das belegen viele Studien“, sagt Grabner. „Wir haben es aber bei dieser Frage mit einem gesellschaftlichen Stereotyp zu tun. Und Stereotype wirken auf die Kinder und die Erwartungshaltung der Eltern.“ Das ist wohl als Warnung an Eltern und Familienmitglieder zu verstehen, gerade in dieser Hinsicht besonders sensibel zu sein. Und vor allem auch nicht zu vergessen, dass es auch kreative, motorische und sozial-emotionale Begabungen gibt, die Kindern den Weg zu Kunst, Handwerk oder Sozialarbeit eröffnen.
Fotos: istock.com / Germanovich, Conny Leitgeb