Mit der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter (FSG) hat der steirische Arbeiterkammerpräsident Josef Pesserl über ein Jahrzehnt lang die Interessen der Arbeitnehmer vertreten. Das will er nach der AK-Wahl vom 16. bis 19. April 2024 auch weitere fünf Jahre tun. Und dabei den Strauß an politischen Versäumnissen pflücken.
GRAZETTA • In den letzten Wochen waren Sie auf vielen Veranstaltungen. Vom Kegeln im obersteirischen Aichdorf bis zu Betriebsbesuchen. In Bezug auf Ihren Wahlslogan „Unsere starke Stimme“: Wie ist die Stimmung draußen bei den Kollegen?
JOSEF PESSERL • Die Stimmung ist extrem gedrückt. Grund dafür sind die gestiegenen Preise in den wesentlichen Bereichen wie Wohnen, Nahrungsmittel, Strom, Heizung und Treibstoff. Die Situation ist wirklich dramatisch. Das erfahren wir nicht nur bei Veranstaltungen, sondern auch täglich bei den Beratungen hier im Haus und in unseren steirischen Filialen. Und wir reden im Unterschied zur Pandemie nicht von Arbeitslosen oder Geringverdienern, sondern von Vollzeitbeschäftigten, die gemeinsam mit ihren Familien und Kindern betroffen sind. Im Zuge der Betriebsbesuche tausche ich mich auch mit den Unternehmern aus. Die haben auch gehörig zu kämpfen.
Wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen?
JP • Die unternehmerische Seite ächzt vor allem unter den Energiepreisen, die sich teilweise verzehnfacht haben. Dabei sind diese exorbitanten Strompreise durch nichts zu rechtfertigen, da die Erzeugung ja nicht teurer geworden ist. Einige Konzerne haben die Gunst der Stunde genutzt, um sich zu bereichern und Profit abzuschöpfen. Da findet eine unglaubliche Abzocke auf Kosten der Arbeitnehmer und Unternehmen statt. Als Arbeiterkammer haben wir die Politik schon vor zwei Jahren auf diese Missstände hingewiesen und aufgefordert, regulativ einzugreifen. Passiert ist nichts, außer, dass die Politik die Profite einiger Konzerne noch mit Steuergeld subventioniert hat. Indessen ist die Massenkaufkraft verloren gegangen, eine notwendige Preissenkung ist ausgeblieben. Da hat die Politik komplett versagt. Und das hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit Hausverstand. Immerhin gibt es in Europa genügend Beispiele, wie eine Regierung einer Krise rund um Teuerung und Inflation entgegenwirken kann.
„Es geht primär nicht darum, dass etwas erstritten wird, sondern dass unsere Mitglieder das bekommen, was ihnen auch zusteht.“
Sie sind auf einem Bauernhof aufgewachsen, haben nach einer Lehre in verschiedensten Berufen gearbeitet und sind seit 35 Jahren sozialdemokratischer Gewerkschafter. Wäre es anders gekommen, wenn Sie den Hof übernommen hätten?
JP • Es war eher eine kleine Landwirtschaft als ein Bauernhof. Meine Eltern haben alles selbst angebaut, wir haben von der Hand in den Mund gelebt. Aber in unserem Dorf ist es allen gleich gegangen. Wenn du wenig oder gar nichts hast, lernst du zu teilen. Keiner, der bei uns zu Besuch war, ist mit leeren Händen nach Hause gegangen. Dieses Teilen hat meine Kindheit, die zwar karg, aber sehr schön war, und mein ganzes weiteres Leben geprägt. Vom Kühe melken bis zum Kartoffeln anbauen habe ich überall mitgeholfen. Die bäuerliche Tätigkeit ist für die Gesellschaft absolut wichtig, aber in meinem Fall hätte man nicht davon leben können. Deshalb habe ich einen anderen Weg eingeschlagen, unterschiedlichste Berufe ausgeübt und viel Erfahrung gesammelt.
Bei der letzten Wahl der AK Steiermark vor fünf Jahren wurden Sie mit über 60 Prozent gewählt. Was waren Ihre Ambitionen noch einmal anzutreten?
JP • Den letzten Erfolg habe ich nicht alleine, sondern das ganze Team zu verantworten. Und die Mitglieder haben erkannt, dass wir eine engagierte Arbeit leisten. Ich wollte nie ein Sesselkleber sein. Es war zum einen der Wunsch von meinem Team und meinen Freunden, dass ich weitermache. Diesem Wunsch bin ich nachgekommen. Zum anderen ist es die ganz persönliche Leidenschaft für die Tätigkeit.
Der aktuelle Stand in der Bildung, speziell in der Elementarpädagogik ist desaströs. Eines Landes wie Österreich unwürdig. Wir laborieren an einem Schulsystem, das von Kaiserin Maria Theresia stammt.
Der gesetzliche AK-Beitrag bei einem mittleren Einkommen beträgt um die zehn Euro. Dafür haben Mitglieder unter anderem Anspruch auf Unterstützung bei arbeits- und sozialrechtlichen Fragen. Wird die Arbeiterkammer nach wie vor als „Hüterin der Rechte“ von Arbeitnehmern verstanden?
JP • Fakt ist, dass die Arbeiterkammer von ihren Mitgliedern als wichtige Einrichtung und Interessenvertretung wahrgenommen wird. Befragungen der Bevölkerung haben ergeben, dass die Arbeiterkammer in Bezug auf positives Image und Außenwirkung unter den Institutionen immer unter den ersten drei Plätzen gelistet ist. Die Leistungen können nur aufgrund der Mitgliedsbeiträge in diesem Umfang erbracht werden, sonst wäre das Modell unfinanzierbar. Man kann das mit einer Feuerversicherung vergleichen: Brennt das Haus erst einmal, dann ist es zu spät, eine Versicherung abzuschließen. Insofern handeln wir als Solidargemeinschaft vorausblickend, weil die Leistungen notwendig sind und immer mehr nachgefragt werden. Unsere aktuelle Bilanz über die Jahre 2019 bis 2023 zeigt, dass wir in diesem Zeitraum rund 1,5 Millionen Beratungen und Rechtsauskünfte verzeichneten und 356 Millionen Euro an barem Geld für die Mitglieder erwirken konnten. Der Vertretungserfolg im Sozialrecht betrug alleine im letzten Jahr 40,4 Millionen Euro. Ein Großteil davon entfiel auf Pensionsleistungen. Durch den Einsatz und das Fachwissen unserer Steuerexperten haben sich Lohnsteuerpflichtige im Vorjahr 9,5 Millionen Euro vom Finanzamt zurückgeholt. Da geht es primär nicht darum, dass etwas erstritten wird, sondern dass unsere Mitglieder das bekommen, was ihnen auch zusteht. Auch Unternehmen sind erpicht darauf, dass es ihren Mitarbeitern an nichts fehlt, dass sie gesund sind, sich wohlfühlen und ihre Ansprüche korrekt erfüllt werden. Ist das nicht der Fall, treten wir auf den Plan. Weil wir es können.
Mehr Geld zum Leben, Stärkung der Frauenrechte und der Ausbau des Öffentlichen Verkehrs sind ebenso Schwerpunkte im Programm der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter (FSG) wie die Forderung nach einem Stopp der Teuerung. Gibt es ein Thema mit besonderer Gewichtung?
JP • Durch die Versäumnisse der Politik ist ein Strauß an Baustellen und Problemen entstanden. Die Pflege und die gesamte Gesundheitsversorgung kommt einer Katastrophe gleich. Der aktuelle Stand in der Bildung, speziell in der Elementarpädagogik, ist desaströs. Eines Landes wie Österreich unwürdig. Wir laborieren an einem Schulsystem, das von Kaiserin Maria Theresia stammt. Eltern geben jedes Jahr zwölf Millionen Euro für Nachhilfe aus, 20.000 Kinder bräuchten eine zusätzliche Förderung, aber dort können die Eltern diese finanziell nicht stemmen. Bei all diesen akuten Themen ist es schwierig, eine Prioritätenliste zu erstellen. Vielmehr gilt es, parallel die Herausforderungen anzunehmen und den Strauß an Problemen zu pflücken.
„Die Arbeitnehmer erbringen unglaubliche Leistungen von elementarer Bedeutung. Das muss honoriert werden.“
Innerhalb der letzten zehn Jahre gab es laut Statistik in Österreich jährlich im Schnitt nur einen Streiktag pro 1.000 Beschäftigte. Im europäischen Vergleich wird nur in der Slowakei weniger gestreikt. Liegt das an den Errungenschaften der Sozialpartnerschaft oder sind die heimischen Arbeitnehmer einfach zurückhaltender?
JP • Ich denke schon, dass die Partnerschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den letzten 70 Jahren wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg beigetragen haben. Nirgendwo auf der Welt gibt es einen besseren Kollektivschutz als in Österreich und der Sozialpartnerschaft ist auch der Erhalt des sozialen Friedens zu verdanken. Sie hat im Laufe der Zeit immer mehr komplexe Themen übernommen, die eigentlich die Politik zu verantworten hätte. Und wenn die politischen Verantwortlichen diese Missstände weiterhin ignorieren, dann werden die Menschen auf die Straße gehen und man treibt sie in die Hände von extremen Gruppierungen. Auch im Hin-blick auf dieses Szenario wäre die Politik gut beraten, sich den Anliegen der Menschen aktiv anzunehmen und entlastende Rahmenbedingungen zu schaffen.
Die Arbeiterkammer bezeichnet sich als Parlament der Arbeitnehmer und vergleicht die AK-Wahl in der Steiermark vom 16. bis 19. April mit der Nationalratswahl. Welchen Kurs sollte die AK Steiermark Ihrer Meinung nach für die nächsten fünf Jahre einschlagen?
JP • Die Arbeiterkammer wird auch sicher in den nächsten fünf Jahren die Politik auffordern, in konstruktive Lösungen zu investieren. Und das muss ihr wirklich etwas wert sein, denn wer billig kauf, kauft teuer. Und der soziale Frieden hat einen hohen Wert. Die Arbeitnehmer erbringen unglaubliche Leistungen von elementarer Bedeutung. Das muss honoriert werden. Diese Werte dürfen nicht verloren gehen und deshalb ist es auch so wichtig, dass sich die Mitglieder an der Wahl beteiligen, damit die Rechte der Arbeitnehmer nicht geschwächt werden. Wir müssen von der Demokratie Gebrauch machen. Gerade weil sie uns selbstverständlich erscheint, muss darauf immer wieder hingewiesen werden. Die Frage, welchen Kurs die Arbeiterkammer in den nächsten Jahren einschlagen wird, bestimmt der Wähler.
Fotos: Michaela Pfleger