Grazetta

WIE WIRD DER HERBST?

Müssen wir uns auf eine neue COVID-Welle einstellen oder haben wir die Krankheit unter Kontrolle? Grazetta hat sich unter politisch Verantwortlichen und Experten umgehört.

Wer noch den Überblick behalten will über alle Theorien, Einschätzungen, Vermutungen und über die gesicherten Erkenntnisse zum Sars CoV-2-Virus, der hat gut zu tun. Zwischen 150.000 und 200.000 wissenschaftliche Publikationen sind seit Beginn der Pandemie über das Virus erschienen, schätzt Karlheinz Kornhäusl, Internist am LKH Graz und Gesundheitssprecher der ÖVP-Fraktion im Bundesrat. Ein Output, den man gar nicht hoch genug einschätzen könne. „Die Pandemie hat zu einer einzigartigen internationalen Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und zu herausragenden Leistungen geführt“, betont Kornhäusl. „Und trotzdem wird man niemanden finden können, der vorhersagen kann, womit wir im Herbst rechnen müssen.“ Sicher wisse man nur eines: Corona wird Teil unseres Lebens werden. So wie wir im Winter mit der Grippe leben und mit der Verkühlung.

Aber damit ist man mit den gesicherten Erkenntnissen wohl auch schon am Ende. Stattdessen stellen sich Fragen über Fragen: Wird das Virus mutieren und wenn ja, wird es ansteckender, wird es zu schwereren Verläufen führen und werden uns die verfügbaren Impfstoffe davor schützen? Werden wir einen Impfstoff haben, der nicht nur vor schweren Erkrankungen schützt, sondern
auch vor einer Ansteckung?

Long Covid wird uns intensiv beschäftigen.

JOHANNES RAUCH
Gesundheitsminister

Was man bisher weiß:
Ob und wie sich das Virus verändert, lässt sich nicht vorhersagen, sagen Virologen übereinstimmend. Um einen besseren Blick auf das Eigenleben des Virus zu erhalten, wurde in den USA das „SARS-CoV2 Assessment of Viral Evolution“-Programm (SAVE) auf die Beine gestellt. Das Forschungsprogramm, an dem die österreichische Virologin Dorothee van Laer und der Infektiologe Florian Krammer beteiligt sind, soll neue Mutationen beurteilen. Wird eine neue Variante entdeckt, dann untersucht Krammers „In-Vitro“-Arbeitsgruppe, ob die gegen alte Covid-Typen gebildeten Antikörper die neue Variante erkennen und ob die T-Zellen eine Immunantwort vorantreiben können. Die SAVE-Spezialisten werden also nachweisen können, ob die Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), neue Mutationen würden zu schwächeren Krankheitsverläufen führen, aufrechterhalten werden kann. „Die Immunität der Bevölkerung steigt durch Impfungen und Infektionen“, so begründet Tedros Adhanom Ghebreyesus, Chef der WHO, seine These von der eher weniger dramatischen Situation im kommenden Herbst. Der Epidemiologe Gerald Gartlehner von der Donau Universität Krems sieht das ähnlich: „Wenn Omikron die dominante Variante bleibt, dann wird der Herbst eher leichter. Wenn eine andere Variante auftaucht, wird die Vorbereitung schwieriger.“

Impfstoff-Forschung:
Experten gehen von einer jährlichen Corona-Auffrischungsimpfung aus.

Schlussendlich würde die im Herbst vorherrschende Spielart von SARS-CoV2 auch darüber entscheiden, wie es mit der Impfpflicht weitergeht, vermutet Gartlehner: „Bleibt Omikron dominant, brauchen wir mit großer Wahrscheinlichkeit keine Impfpflicht.“ Bei einer neuen Mutation „vielleicht schon“.

Das Problem ist nur, dass man noch immer nicht wirklich weiß, was eine Infektion mit Omikron für das Risiko von Long-Covid- Symptomen bedeutet. Das liegt auch daran, dass es in Österreich zu wenig Daten darüber gibt. Im Gegensatz zu den Spitalsärzten sind die niedergelassenen Kollegen nämlich nicht verpflichtet, Long-Covid-Diagnosen in das elektronische Meldesystem ELGA einzutragen. Was dazu führt, dass man eine Risikoabschätzung nur auf der Grundlage von internationalen Daten vornehmen kann. Ein Drittel aller Covid-Patienten auf einer Intensivstation ist wegen Long Covid dauerhaft arbeitsunfähig, ein weiteres Drittel kämpft ein Jahr nach der Infektion noch immer mit einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit. Die WHO schätzt, dass jeder Zehnte an Covid-Erkrankte auch Long-Covid bekommt.

Long Covid ist eine ausgesprochen komplexe Erkrankung, die medizinische Wissenschaft ordnet an die 200 Symptome dieser Krankheit zu: Am häufigsten klagen Patienten über eine extreme Form der Müdigkeit, die ein normales Leben so gut wie unmöglich mache. Aber auch Kurzatmigkeit, starke Kopf- und Muskelschmerzen sowie Konzentrationsprobleme werden beschrieben.

Lieber mit Maske:
Heißen Covid-Herbst
verhindern.

Der ehemalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), der seine Erfahrungen über Jahr Eins der Pandemie Anfang April in Buchform vorgelegt hat, warnt davor, gerade im Hinblick auf das Long-Covid-Risiko Omikron auf die leichte Schulter zu nehmen. Das dürfte auch der dritte Gesundheitsminister der Pandemie, der Grüne Johannes Rauch, so sehen: „Long Covid wird uns intensiv beschäftigen“, sagte der Vorarlberger in der Ö1-Sendung „Im Klartext“ drei Wochen nach seinem Amtsantritt. Seither verspricht Rauch immer wieder, den Fehler seiner Vorgänger nicht zu wiederholen, den Sommer ohne Vorbereitung auf den Herbst verstreichen zu lassen. Seiner Meinung nach sei das wirkungsvollste Instrument gegen einen heißen Covid-Herbst noch immer die Impfung. „Wie wir die Impfquote steigern, das ist die entscheidende Frage“, so Bundesminister Rauch. Denn nach der Aussetzung der Impfpflicht geht die Anzahl der Impfungen zurück. Oder anders gesagt: Mehr Impfzertifikate verlieren ihre Gültigkeit als neue hinzukommen. Dass eine Impfung noch immer besser schütze als eine überstandene Erkrankung, das betont auch Klaus Vander, Ärztlicher Direktor des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie in Graz. „90 Tage nach einer Infektion ist die Wahrscheinlichkeit einer neuerlichen Infektion für Genesene signifikant höher als für Geimpfte, vor allem, wenn sie geboostert sind“, sagt Vander.

Die Pandemie hat zu einer einzigartigen internationalen Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und zu herausragenden Leistungen geführt.

KARLHEINZ KORNHÄUSL
Internist am LKH Graz

Wie seine Kollegin Dorothee van Laer rechnet auch Vander damit, dass eine jährliche Corona-Auffrischungsimpfung notwendig sein wird. Einen vierten Stich empfiehlt das Nationale Impfgremium derzeit allerdings nur für besonders vulnerable Gruppen. Die Wissenschaft arbeitet jedenfalls mit Nachdruck an Impfstoffen, die so viele Covid- Varianten wie möglich abdecken. An der Medizinischen Universität Wien arbeitet der Immunpathologe Rudolf Valenta an einem Impfstoff, der einen weitreichenderen Schutz bieten soll als die bisher zugelassenen: Sein Serum soll eine Infektion verhindern, und nicht nur einen schweren Verlauf. Der Impfstoff befindet sich derzeit in präklinischen Tests. Valenta hat ihn Hasen verabreicht und sich selbst. „Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend“, sagt der Wiener Immunpathologe. Bis es jedenfalls soweit ist und uns eine Impfung vor einer Infektion schützt, können wir die sogenannten „gelinderen Mittel“ nützen: „Händewaschen, Maske tragen und Abstand halten, mit diesen einfachen Maßnahmen ist schon viel gewonnen“, sagt der Grazer Arzt und Politiker Karlheinz Kornhäusl. Spektakulär sind diese Maßnahmen nicht, aber helfen würden sie sehr.

Fotos: istock.com / Tatevrika. istock.com / Amornrat Phuchom

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