Grazetta

Die Medizin-Revolution

Digitale Instrumente verändern das Gesundheitssystem. Patienten mit chronischen Krankheiten profitieren von engmaschigem Monitoring, Ärzte und Pflegepersonal von KI-gestützten Modellen bei Diagnose und Behandlung.

Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann muss sich alles ändern.“ An dieses Zitat des italienischen Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa dürften viele Menschen denken, die mit dem österreichischen Gesundheitssystem zu tun haben. Denn um die hohen Standards, die man hierzulande für selbstverständlich hält, in Zukunft halten zu können, wird es tiefgreifende Reformen geben müssen. In allen westlichen Industriestaaten altert die Bevölkerung, braucht daher auch mehr medizinische Versorgung, während Ärzte und Pflegepersonal knapp werden. Gleichzeitig macht die medizinische Forschung gewaltige Fortschritte bei der Diagnose und der Behandlung von Krankheiten. Vor allem auch dank der Digitalisierung. Wie rapide diese Entwicklungen voranschreiten, zeigt ein Blick auf den Markt: Bis 2026 wird der Markt für digitale Gesundheitsleistungen auf 239 Milliarden Euro geschätzt. Das entspricht zwölf Prozent der Ausgaben im Gesundheitsbereich. Die Corona-Pandemie war zwar nicht Auslöser dieser Entwicklung, sie hat die Digitalisierung massiv vorangetrieben. Der steirische Gesundheitslandesrat und Internist Karlheinz Kornhäusl spricht in diesem Zusammenhang von einer „großartigen Chance“ und von „nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten“. Denn Künstliche Intelligenz, spezielle Apps und Vorhersage-Instrumente auf der Basis von maschinellem Lernen bieten vielfältige Anwendungsmöglichkeiten, die vor allem drei Ziele haben: Die effizientere Nutzung von kostenintensiver medizinischer Infrastruktur, die Unterstützung von Ärzten bei der Diagnose und das Monitoring von Patienten mit chronischen Erkrankungen außerhalb des Spitals.

„Empowerment der Patienten fördern“

DALIA HÄMMERLE
Gesundheitsinformatikerin

Eine der erfolgreichsten Anwendungen für Patienten mit Herzinsuffizienz ist das Versorgungsprogramm mit der App HerzMobil, die vom Austrian Institute of Technology (AIT) entwickelt wurde und vom steirischen Unternehmen Telbiomed bereitgestellt wird. Seit 2012 wird sie in Tirol, seit 2019 in der Steiermark in der Betreuung von Herzpatienten eingesetzt. „Der Patient bekommt dabei ein Handy mit der HerzMobil-App, ein Blutdruckgerät und eine Waage mit nach Hause“, erklärt Stefan Pötz, Ärztlicher Leiter von HerzMobil in der KAGes. „Diese Geräte übertragen die vom Patienten gemessenen Daten automatisch an die HerzMobil-Zentrale. Die Daten können vom behandelnden Arzt kontrol liert werden, ohne dass der Patient dafür ins Spital kommen muss.“ Angst davor, mit der Technik nicht zurechtzukommen, brauchen Patienten nicht zu haben. Eine diplomierte Pflegefachkraft der KAGes übt mit den Patienten den Umgang mit der App. Wie wirksam dieses Programm tatsächlich ist, zeigen die Erfahrungswerte in Tirol. Mit der HerzMobil-App konnte die Einjahres-Sterblichkeit bei Herzinsuffizienzpatienten von 26 auf zehn Prozent gesenkt werden. Einen deutlichen Rückgang gibt es auch bei der Wiederaufnahme ins Spital. Was auch hervorsticht, sind die deutlich niedrigeren Kosten dieser telemedizinischen Versorgung im Vergleich zu einer stationären:
Die mittleren Kosten für einen Spitalsaufenthalt liegen bei 7.100 Euro, die Kosten für HerzMobil betragen 1.900 Euro pro Patient. HerzMobil hat aber noch einen anderen, nicht zu unterschätzenden Vorteil: „Wir fördern damit das Gesundheitsbewusstsein der Patienten“, sagt die Gesundheitsinformatikerin Dalia Hämmerle von Telbiomed. „HerzMobil stärkt also auch das Empowerment der Patienten.“ Die Verwendung der App ist für Patienten kostenlos, die Teilnahme am Programm ist freiwillig. „HerzMobil ersetzt nicht die persönliche Betreuung durch den behandelnden Arzt“, betont Pötz. „Ganz im Gegenteil: Mit der App hat der behandelnde Arzt die Möglichkeit, sofort auf Veränderungen zu reagieren. Gibt es Hinweise auf Verschlechterung, kann der Arzt die Therapie anpassen und den Patienten verständigen.“

„Digitale Lösung für Wundmanagement.“

ANGELIKA RZEPKA
Wissenschaftlerin bei DigitalHealth
Informations Systems am AIT

Weil das System HerzMobil einfach zu bedienen ist und seinen Nutzen unter Beweis gestellt hat, arbeitet das steirische Unternehmen Telbiomed an Anwendungen für andere chronische Krankheiten. „Wir arbeiten an einem Programm für Personen mit Essstörungen und an einem Monitoring für Patienten nach einer Organtransplantation“, erklärt Dalia Hämmerle. „Beide Projekte werden vom steirischen Gesundheitsfonds gefördert.“ Der Gesundheitsfonds Steiermark ist verantwortlich für die Planung, Steuerung und Finanzierung des steirischen Gesundheitssystems. Als solcher fördert er auch die Entwicklung digitaler Instrumente, getreu dem Motto der jüngsten Gesundheitsreform „digital vor ambulant vor stationär“. Angelika Rzepka arbeitet in der Abteilung Digital Health Information Systems beim Austrian Institute of Technology (AIT), der größten außeruniversitären Forschungseinrichtung Österreichs. „Wir arbeiten derzeit an digitalen Lösungen für Patienten mit chronischen Wunden“, berichtet Rzepka. Chronische Wunden sind unter anderem Begleiterkrankungen von Diabetes oder Durchblutungsstörungen. Eine Krankheit, die für Patienten nicht nur schmerzhaft, sondern auch mit regelmäßigen Terminen beim behandelnden Arzt verbunden ist. „Mit dem Tool kann der Heilungsverlauf zu Hause kontrolliert und die Therapie bei Bedarf angepasst werden. Lange Wartezeiten in der Ambulanz können vermieden werden.“

„Steirische Unternehmen sind führend.“

PASCAL MÜLNER
Human Technology Styria

Am AIT wird aber auch an Systemen gearbeitet, die Ärzte bei der leitlinienkonformen Behandlung von Patienten unterstützen.

An ähnlichen Instrumenten arbeitet auch Diether Kramer vom Grazer Unternehmen Predicting Health, einem Vorreiter bei der Entwicklung von Risikoprognosemodellen. „Ein Beispiel ist ein Modell, das vorhersagen kann, ob ein Patient sturzgefährdet ist“, sagt Kramer. „Damit wissen Ärzte und Pflegepersonal im Spital, ob besondere Vorsichtsmaßnahmen notwendig sind.“ Mit Machine-Learning-Methoden können Risikofaktoren, wie Mangelernährung oder Schluckbeschwerden erhoben werden. Die Machine-Learning-Modelle nutzen dabei bestehende Daten aus dem Krankenhausinformationssystem. „Die KI-Modelle sind so etwas wie ein zusätzliches Sicherheitsnetz für Ärzte und Pflegepersonen“, erklärt Kramer. Heute arbeitet Kramer an verschiedenen Vorhersagemodellen unter anderem für Herzinfarkt, Schlaganfall und Niereninsuffizienz für Hausärzte. „Das Ziel ist, die Prävention zu stärken“, betont Kramer. „Wenn zum Beispiel Niereninsuffizienz rechtzeitig erkannt werden kann, erspart man dem Patienten die Dialyse.“

„Engmaschige Überwachung von Herzpatienten“

STEFAN PÖTZ
Ärztlicher Leiter HerzMobil

Das unterstricht auch Pascal Mülner vom Cluster Human Technology Styria. „Unser Gesundheitssystem greift immer erst dann ein, wenn jemand krank wird. Mit den neuen digitalen Instrumenten können wir rechtzeitig ein Krankheitsrisiko vorhersagen.“ Mülner betont aber auch die wirtschaftliche Bedeutung des Digital-Medizin-Sektors: „Steirische Unternehmen sind in diesem Bereich führend“, sagt er. „Und das halte ich für wichtig: Denn abhängig von Amazon oder Google sollten wir nicht werden.“

Foto: Oliver Wolf, KAGes, Telbiomed, HTS, AIT, Freepik

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