Grazetta

Zusammenhalt

In keinem anderen Land der Welt stehen Bürger Zuwanderern ablehnender gegenüber als in Österreich. Experten warnen, dass diese Haltung den Wohlstand im Land in Gefahr bringen könnte. Auch der Gesellschaft würde also ein entspannteres Verhältnis zwischen Einheimischen und Zugewanderten guttun.

Mit Versprechen von geschlossenen Fluchtrouten und Festungen werden in Österreich seit den 1990er Jahren Wahlen gewonnen. Auch wenn das bedeutet, dass es manche Politiker dabei mit der Wahrheit nicht so genau nehmen: „Sieben von zehn Einwanderern sind Analphabeten“, wetterte Anfang Mai eine freiheitliche Abgeordnete unter Berufung auf den neuen Bericht des Österreichischen Integrationsfonds. Was sie dabei unter den Tisch fallen ließ, musste AMS-Chef Johannes Kopf zurechtrücken. „Sie weisen einen Alphabetisierungsbedarf auf, weil sie erst die lateinische Schrift erlernen müssen.“ Was nichts anderes heißt, als dass diese Menschen in ihren Herkunftsländern lesen und schreiben eben in einer anderen Schrift gelernt haben. Aber das passt eben nicht ins Bild des ungebildeten Ausländers, den man in Österreich nicht brauchen kann.

Ausländer in Österreich (1.1.2023)

Deutsche (EU): 225.106
Rumänen (EU): 147.403
Serben: 122.016
Türken: 119.720
Kroaten (EU): 101.843
Ungarn (EU): 99.730
Ausländeranteil
Gesamtbevölkerung: 19 Prozent

Die Geschichte illustriert anschaulich, wie vergiftet die Debatte um Flucht und Migration in Österreich ist und wie realitätsfern. Das betont etwa die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien: „Ohne Zuwanderung ist der Wohlstand gefährdet. Andernorts hat der Kampf um Arbeitskräfte längst eingesetzt. Österreich verschläft die Entwicklung.“

Dass Kohlenbergers Warnung begründet ist, zeigt die Arbeitsmarktsituation im Land: Österreich hat neben Belgien die höchste Quote an offenen Stellen in der Europäischen Union. Das hat vor allem mit der demografischen Entwicklung zu tun. „Ohne Zuwanderung würde die österreichische Bevölkerung auf das Niveau der 1950er Jahre zurückfallen“, rechnen die Experten der Statistik Austria vor. Die Zahl der autochthonen Österreicher nimmt seit Jahren ab. Dass die Wohnbevölkerung in Österreich in den letzten zehn Jahren dennoch um 570.000 Personen zugenommen hat, ist ausschließlich der Zuwanderung zu verdanken.

Was aber angesichts der Pensionierungswelle bei den Babyboomern nicht mehr reicht, um den größer werdenden Mangel an Arbeitskräften in Österreich zu beheben. „Wir brauchen dringend eine qualifizierte Zuwanderung“, fordert Johannes Absenger, Referent am Institut für Wirtschafts- und Standortentwicklung der Wirtschaftskammer Steiermark. „Im Kampf um ausländische Arbeitskräfte stehen wir aber in harter Konkurrenz mit Ländern wie Deutschland und der Schweiz.“ Allerdings hat Österreich in diesem Konkurrenzkampf nicht gerade die besten Karten, wie die Migrationsforscherin Kohlenberger sagt. „Österreich liegt als attraktives Zielland im unteren europäischen Mittelfeld. Das hat mit der Fremdenfeindlichkeit im Land, mit den strengen Einbürgerungsgesetzen und mit fehlender gesellschaftlicher Diversitätskompetenz zu tun.“ Oder einfacher ausgedrückt: Die Österreicher sollten sich von ihren Vorurteilen verabschieden und zu mehr Menschlichkeit finden. Was aber voraussetzt, dass die politischen Parteien offen darüber sprechen, wie die notwendige Zuwanderung organisiert werden kann und welche gesetzlichen Reformen dafür nötig sind.

Rot-Weiß-Rot-Karte
Eine Möglichkeit, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben, bietet seit 2012 die Rot-Weiß-Rot-Karte. Wer ein Jobangebot in Österreich hat, kann die Karte, die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erteilt, im Herkunftsland beantragen. Ein Punktesystem, das Sprachkenntnisse und Ausbildungsstand bewertet, entscheidet über die Zulassung. Erst im Oktober des Vorjahres hat die türkis-grüne Bundesregierung die Zulassungskriterien erleichtert. Das erforderliche Brutto-Jahresgehalt wurde von 66.600 auf 44.395 Euro gesenkt, für Schlüsselkräfte gelten knapp 40.000 Euro. „Seit der Vereinfachungen ist die Anzahl der Anträge im ersten Quartal 2023 gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres um 50 Prozent gestiegen“, erklärt WKO-Experte Absenger. Ein Blick auf die absolute Zahl der Anträge – 866 Anträge wurden im Vorjahr in der Steiermark gestellt – zeigt aber, dass mit der RWR-Karte allein die Probleme am Arbeitsmarkt nicht zu lösen sind. Das bestätigt auch Absenger, der weitere Erleichterungen, wie zum Beispiel weniger strenge Anforderungen an die Sprachkompetenz und eine stärkere Gewichtung von non-formalen Kenntnissen, wie Berufserfahrung, fordert. „Wichtig wären auch Aufenthaltstitel für Lehrlinge“, sagt er. „Nach Abschluss der Lehre sollte ein nahtloser Umstieg auf eine RWR-Karte möglich werden.“

Emina Saric, Mitglied des unabhängigen Expertenrates für Integration der österreichischen Bundesregierung: „Integration ist in den letzten 15 Jahren eigentlich sehr gut gelungen.“

Die Bundesregierung wirbt inzwischen aktiv in Ländern wie Indonesien, den Philippinen und in Lateinamerika Fachkräfte an. Was bei vielen Experten für Zuwanderung und Integration Kopfschütteln auslöst. Wie etwa bei Fred Ohenhen, der in Graz interkulturelle Bildungsarbeit in Kindergärten und Schulen leistet. „Wir werben Fachkräfte in weit entfernten Ländern an und schieben gleichzeitig Asylwerber ab, die in Österreich arbeiten oder eine Ausbildung machen. Das ist doch absurd.“

Ohenhen plädiert für einen erleichterten Wechsel vom Status des Asylwerbers in jenen eines Zuwanderers mit Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Dass viele Österreicher für eine derartige Regelung zu gewinnen wären, zeigen Reaktion wie jene der Bewohner von Haslach in Oberösterreich, die gegen die Abschiebung einer indischen Köchin und deren Tochter vehement protestiert hatten.

Projekt Heroes in Graz: Alternativen zu patriarchalen Traditionen im migrantischen Milieu.

Asyl und Einwanderung
Beispiele, wie jenes der indischen Familie, zeigen, wo gesetzliche Bestimmungen menschlichen und wirtschaftlich sinnvollen Lösungen im Wege stehen. Inder machten 2022 mit 19.500 Anträgen nach Afghanen die zweitgrößte Gruppe von Asylsuchenden aus. Nicht etwa, weil sie in Indien politischer Verfolgung ausgesetzt wären, sondern weil ein Asylantrag die einzige Möglichkeit ist, nach Österreich zu kommen. Weil legale Zuwanderung de facto unmöglich ist, steigt also die Anzahl der Asylanträge. 2022 waren es 112.272 und damit mehr als am Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung der Jahre 2015/2016.

Asylanträge Österreich

2022: 112.272
2015: 88.340

Anerkennungsquote 2022:
15,8 Prozent 
(13.779 positive Bescheide)
2021: 35 Prozent 
(ca. 12.000 positive Bescheide) 
2017: 50,5 Prozent
2014: 46,4 Prozent

Asylwerber, die zu einem Verfahren zugelassen worden sind, haben nach geltendem Recht keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, obwohl viele von ihnen gerne arbeiten würden. Wer in der Grundversorgung ist, darf nur gemeinnützige Hilfsarbeiten für Gemeinden oder Flüchtlingsunterkünfte leisten. Ausgenommen von diesem Arbeitsverbot sind nur die rund 70.000 Flüchtlinge aus der Ukraine.

Erst nach der Anerkennung als Flüchtlinge oder als subsidiär Schutzberechtigte dürfen Flüchtlinge eine reguläre Arbeit annehmen. Österreich lässt gerade in dieser Gruppe also viel Potenzial liegen. Auch deshalb, weil Flüchtlinge entgegen der vorherrschenden Meinung in vielen Fällen gut ausgebildet sind.

Integration
Ein Grund, warum ein rationaler Umgang mit Flucht und Zuwanderung in Österreich so schwer ist, ist das negative Bild von „Ausländern“, das hierzulande so weit verbreitet ist. Der „Ausländer“ lebt auf Kosten der Österreicher, ist kriminell, sympathisiert mit radikalen muslimischen Tendenzen und ist eine Gefahr für die Sicherheit im öffentlichen Raum, so könnte man die Vorurteilslage zusammenfassen.

Dass diese gefährlichen Stereotypen nichts mit der Realität zu tun haben, sagen alle, die sich wissenschaftlich mit dem Thema Integration von Zuwanderern beschäftigen. „Integration ist in den letzten 15 Jahren eigentlich sehr gut gelungen, auch wenn es noch viel zu tun gibt“, sagt auch Emina Saric. Sie ist Mitglied des unabhängigen Expertenrates für Integration der österreichischen Bundesregierung und Vorsitzende des Aufsichtsrates der Dokumentationsstelle Politischer Islam. „Für die Ansicht, dass Integration nicht gelänge, gibt es keinen Beleg. Im Gegenteil: „Während es in Ländern wie Frankreich oder Deutschland viele segregierte migrantische Milieus gibt, sind in Österreich solche Gruppen relativ überschaubar, wie etwa am Griesplatz in Graz oder Favoriten in Wien.“ Faktoren wie die Größe der Stadt spielten dabei eine Rolle.

Saric beschäftigt sich als Expertin für die Auswirkung von Geschlechterverhältnissen auf Integration intensiv mit diesen oft segregierten, ehrkulturellen Milieus, in denen Männer Frauen daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen: „Viele junge Frauen haben gute schulische Erfolge. Aber mit 18 Jahren verschwinden sie“, berichtet Saric. „Die Männer beanspruchen für sich das Recht, ihre Schwestern und Cousinen, ja sogar ihre Mütter zu kontrollieren. Sie schreiben den Frauen vor, wie sie sich zu kleiden hätten und mit wem sie Umgang haben dürfen.“ Die Verteidigung der Familienehre rechtfertige Gewalt gegen Frauen in allen ihren Formen. Nicht selten verfestigten sich diese tradierten Verhaltensmuster gerade im Aufnahmeland. Saric bezeichnet dies als Rezementierung der Geschlechterrollen, ein Mechanismus, der nicht nur Frauen, sondern auch Männern schwer zu schaffen macht. „Wenn sich Frauen aus diesen Abhängigkeiten lösen, erleben sie das als Befreiung. Männer verlieren ihre tradierten, patriarchalen Privilegien, erleben das als Kränkung und reagieren oft dementsprechend aggressiv“, erklärt Saric.

Herkunftsländer  Asylsuchende 2022

Afghanistan: 24.241
Indien: 19.504
Syrien: 19.150
Tunesien: 12.667
Marokko: 8.471
Pakistan: 7.643

Das würde bei Männern nicht selten zu Abwehrreaktionen, wie Suchtverhalten, gewaltaffines Verhalten und Rückzug in die Community führen. Saric möchte diese Bubbles, wie sie es nennt, aufbrechen, damit Frauen selbst über ihr Leben entscheiden können, aber nicht nur das: „Frauen spielen eine Schlüsselrolle, wenn es um Integration geht“, betont sie.

„Denn Frauen geben diese traditionellen Begriffe wie Ehre in der Erziehung ja auch an ihre Kinder weiter.“ Damit zumindest junge Männer aus konservativen Zuwanderermilieus einen Raum finden, in dem sie sich mit dem Konflikt zwischen Tradition und Geschlechtergerechtigkeit auseinandersetzen können, hat sie 2017 gemeinsam mit dem Psychotherapeuten Michael Kurzmann vom Verein für Männer- und Geschlechterthemen in Graz das Projekt „Heroes“ ins Leben gerufen: „In diesen Workshops können Burschen und Männer mit Migrationsgeschichte über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung sprechen, aber auch über ihre Probleme in ihren Communities“, sagt Saric. „Wir versuchen, ihnen Alternativen aufzuzeigen.“

Johannes Absenger, Referent am Institut
für Wirtschafts- und Standortentwicklung der Wirtschaftskammer Steiermark: „Im Kampf um ausländische Arbeitskräfte stehen wir aber in harter Konkurrenz mit Ländern wie Deutschland und der Schweiz.“

Womit Saric aber nicht sagen will, dass ein Gelingen von Integration – sie spricht lieber von Eingliederung in die Gesellschaft und Zusammenhalt – nur von den Zuwanderern abhängt. „Wir müssen Rahmenbedingungen anbieten, damit sich Zuwanderer in Österreich wohl-fühlen können“, fordert sie. Ein wichtiges Instrument – auch da herrscht unter Migrationsexperten weitgehend Einigkeit – wäre ein leichterer Zugang zur Staatsbürgerschaft. „Die Staatsbürgerschaft wird in Österreich als Belohnung für Integration gesehen“, sagt der Soziologe Max Haller. „Dabei belegen viele sozialwissenschaftliche Studien, dass die Staatsbürgerschaft in Wirklichkeit ein Katalysator für Integration ist.“ Tatsächlich hat Österreich eines der strengsten Staatsbürgerschaftsgesetze in der EU.

Beantragt werden kann sie nur von Zuwanderern, die seit mindestens zehn Jahren in Österreich leben, über ein ausreichendes Einkommen und über ein einwandfreies Leumundszeugnis verfügen. Wer die österreichische Staatsbürgerschaft erhält, muss, so will es der Gesetzgeber, die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes zurücklegen, weil Österreich Doppelstaatsbürgerschaften im Gegensatz zum Beispiel zur Schweiz nicht akzeptiert. Das sind die Gründe, warum die Einbürgerungsraten in Österreich zu den niedrigsten in der EU zählen.

Bevölkerung mit Migrationshintergrund Österreich: (2021) 2,24 Millionen

Erste Generation: Im Ausland geboren und zwei im Ausland geborene Elternteile: 1,64 Millionen

Zweite Generation: In Österreich geboren, zwei im Ausland geborene Elternteile: 605.300

Bevölkerungsanteil Menschen mit Migrationshintergrund: 25,4 Prozent (unabhängig von Staatszugehörigkeit) 

Hinzu kommt ein massives demokratiepolitisches Problem: Zuwanderer sind von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. Sie zahlen zwar Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, was damit geschieht, darüber können sie nicht entscheiden. Im Bundesland Wien ist inzwischen ein Drittel der Wohnbevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen. Dabei würde knapp die Hälfte der in Österreich lebenden Zuwanderer gerne Österreicher werden, wie eine in Wien durchgeführte Studie von Max Haller und dem Politologen Jeremias Stadlmair von der Universität Wien erhoben hat. Zieht man die in Österreich lebenden EU-Bürger ab, die kaum an einem Wechsel der Staatsbürgerschaft interessiert sind, wird deutlich, wie groß der Wunsch nach rechtlicher Gleichstellung eigentlich ist. 67 Prozent der Bürger aus Drittstaaten würden sich gerne naturalisieren lassen. Wären Doppelstaatsbürgerschaften möglich, wären die Prozentsätze noch höher. Dem Gesetzgeber empfehlen Haller und Stadlmair den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erleichtern, die Einkommensgrenzen und die Mindestaufenthaltsdauer auf sechs Jahre zu senken. Eine Hürde sind ihrer Meinung nach auch die Kosten für die Staatsbürgerschaft : In der Steiermark kostet die sie einkommensabhängig zwischen 1.500 und 2.500 Euro. Hinzu kommen die Kosten für beglaubigte Übersetzungen von der Geburtsurkunde bis hin zu den Schulzeugnissen. All diese Dokumente beizubringen, auch das kann zur Herausforderung werden.  

Fotos: WKO, Mias Photoart, Adnan Babahmetovic,

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