Grazetta

Kindergarten in NOT

Akuter Personalmangel bringt die Kinderbetreuung in Österreich in Gefahr. Mit einer Milliarde Euro wollen Bund und Länder der Krise in der Elementarpädagogik begegnen. Pädagoginnen sind skeptisch und sprechen von unhaltbaren Zuständen.

Beim größten Kindergartenbetreiber Wiki in Graz wurden im September fünf Gruppen geschlossen und acht Ganztagesgruppen auf Halbtagsgruppen umgestellt. 100 Kinder haben ihren Platz verloren, weil es nicht genug Personal gibt. Anna und Sonja*, Elementarpädagoginnen in städtischen Kindergärten in Graz, berichten von Müttern, die verzweifelt versucht haben, eine Lösung zu finden. „Ich habe mit einer Frau gesprochen, deren Kind nur noch eine Halbtagsbetreuung bekommen konnte. Sie arbeitet aber ganztags, ihrer Bitte an den Vorgesetzten, halbtags arbeiten zu dürfen wurde nicht entsprochen“, berichtet Anna. Dass es einfach nicht genug Betreuungspersonal für Kleinkinder gibt, überrascht die beiden nicht. Ihre Arbeit ist hart, die Bezahlung schlecht und die Wertschätzung lässt zu wünschen übrig.
Sonja betreut 3- bis 5-Jährige in Graz. Ihr Arbeitstag beginnt um sechs Uhr früh. Sie bereitet den Tag vor, richtet den Kindergarten her, um 6 Uhr 50 kommen die ersten Kinder. Bezahlt wird sie ab sieben Uhr. In ihrer Gruppe sind 25 Kinder, bei der Arbeit wird sie von einer Kinderbetreuerin unterstützt. Zumindest ein paar Stunden, denn dann muss die Betreuerin für das Mittagessen der Kinder sorgen. „Wenn dann bei einem Kind die Windel gewechselt werden muss, dann muss ich die anderen 24 unbeaufsichtigt lassen“, erzählt Sonja. „Dabei habe ich immer ein ziemlich ungutes Gefühl, denn wenn etwas passiert, dann hätte ich meine Aufsichtspflicht verletzt und würde meinen Job verlieren.“ Zu zweit für 25 Kinder verantwortlich zu sein, das entspricht dem gesetzlichen Personalschlüssel.

Wieviel Betreuung dieses Verhältnis für jedes einzelne Kind zulässt, kann man sich ausrechnen. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber den Elementarpädagoginnen – Männer gibt es in diesem Berufszweig kaum – 2009 mit dem Bildungsrahmenplan sehr umfassende Bildungsziele vorgegeben hat: „Soziale Beziehungen, Ethik und Gesellschaft, Sprache und Kommunikation, Bewegung und Gesundheit, Ästhetik und Gestaltung sowie Natur und Technik, das sind die Bereiche, in denen wir unsere Kinder unterrichten sollen“, sagt Sonja. Die Kinder sollen zudem in ihrer Sprachentwicklung gefördert werden. „Wir müssen zwar in regelmäßigen Abständen die Sprachentwicklung der Kinder schriftlich festhalten“, erklärt Anna. „Aber Zeit für die Förderung von Kindern, die das brauchen würden, haben wir nicht.“ Auch deshalb, weil die Elementarpädagoginnen Aufgaben übernehmen, die eigentlich Sache der Eltern wären. Wie zum Beispiel Kindern anzugewöhnen, auf die Toilette zu gehen oder mit Messer und Gabel zu essen. „Wir sind von einer familienergänzenden zu einer familienersetzenden Einrichtung geworden“, sagt Anna. Und das mit einem Gehalt, von dem man als alleinstehende Elementarpädagogin in der Stadt Graz nicht leben kann. „Ich kenne Kolleginnen, die am Abend putzen gehen oder Kinder privat weiterbetreuen, damit sie über die Runden kommen“, berichtet Sonja.

Wenn ich bei einem  Kind die Windel wechsle muss, dann muss ich die anderen 24 unbeaufsichtigt lassen.

Eine Grazer Elementarpädagogin

Elementarpädagoginnen werden nämlich nicht einheitlich bezahlt, Gemeindekindergärten entlohnen nach einem anderen Besoldungsschema als private Einrichtungen. Unterschiede gibt es auch zwischen den Bundesländern: In der Steiermark beträgt das Einstiegsgehalt für Pädagoginnen bei öffentlichen Trägern 2.096 Euro brutto, im benachbarten Burgenland 2.835 Euro für eine Vollzeitverpflichtung. Hinzu kommt aber noch ein weiteres Problem: Die wenigsten Elementarpädagoginnen sind vollzeitbeschäftigt. Ihre Stundenverpflichtung hängt ab von der Nachfrage am Standort. Zwei Drittel der Elementarpädagoginnen arbeiten in Teilzeit „Es gibt im Bereich Elementarpädagogik 60 verschiedene Gehaltstabellen“, sagt Beatrix Eiletz, Betriebsratsvorsitzende bei der Volkshilfe Steiermark.

Weil in Graz Pädagogen fehlen, haben auch Sonja und Anna mehr Stunden bekommen, was die beiden gefreut hat. Am grundlegenden Problem, dass die immer umfangreicher werdenden administrativen Aufgaben in der Freizeit und unbezahlt erledigt werden müssen, ändert die Aufstockung nichts. „Die Dokumentation machen wir am Wochenende zuhause“, berichten die beiden. „Wir haben in der Einrichtung nämlich keinen Drucker mehr, den haben wir privat angeschafft“, sagt Sonja.

Personalmangel: Nur 30 Prozent der
Elementarpädagoginnen üben ihren Beruf aus.

Mit der Kindergarten-Milliarde wollen Bund und Länder der Krise im Kindergarten ein Ende machen. Auf der Grundlage der 15a-Vereinbarung für die Jahre 2022/2023 bis 2026/2027 erhalten die Länder jährlich 60 Millionen Euro mehr, die sie für bessere Öffnungszeiten, kleinere Gruppen, mehr Personal und für die Sprachförderung ausgeben können. Um dem akuten Personalmangel entgegenzuwirken, sollen Berufseinsteigerinnen in der Steiermark 15.000 Euro zusätzlich bekommen, wenn sie sich verpflichten, drei Jahre in ihrem Beruf zu arbeiten. Denn auch wenn genug Elementarpädagoginnen ausgebildet werden, den Beruf ausüben werden gerade einmal 30 Prozent. „Wenn die jungen Pädagoginnen sehen, wie ihr Arbeitsalltag aussieht, hören sie auf“, sagt Betriebsrätin Eiletz. Das bestätigen auch die beiden Elementarpädagoginnen Anna und Sonja. „Wir haben auch in unserem Umfeld Kolleginnen, die sich entschließen, weiter zu studieren und die Ausbildung zur Volksschulpädagogin zu machen“, berichten sie. „Da gibt es ein besseres Gehalt, mehr Sicherheit und mehr Freizeit.“ Über den 15.000-Euro-Bonus schütteln die beiden den Kopf: „Was sollen sich die Kolleginnen denken, die seit Jahren mit viel Engagement und unbezahlter Arbeit ihren Job machen“, kritisiert auch Betriebsrätin Eiletz.

Ein Grund, warum Reformen so schwierig sind, liegt auch am Föderalismus: Bund, Länder, Gemeinden und Trägerorganisationen teilen sich die Verantwortung. Zwei Drittel der Nettoausgaben werden von den Gemeinden getragen. Investitionen in den Ausbau teilen sich Bund und Land. Das Personal wird vom Land und den Gemeinden bezahlt. Ko-Finanzierung, Investitionszuschüsse, 15a-Förderungen, wer die Finanzierung der Elementarpädagogik durchschauen will, der sollte Verwaltungsrechtsexperte sein. „In der Praxis bedeuten diese geteilten Zuständigkeiten, dass sich keine Ebene tatsächlich zuständig fühlt“, kritisiert Betriebsrätin Beatrix Eiletz. Der ÖGB fordert daher ein einheitliches Bundesrahmengesetz und einen einheitlichen Kollektivvertrag.

Wenn die jungen  Elementarpädagoginnen sehen, wie ihr Arbeitsalltag aussieht, hören sie auf.

Betriebsrätin Beatrix Eiletz über den Personalmangel

Diese Forderung unterstützt auch Katharina Awender-Hohenadler, Geschäftsführerin von KIP3, den rund 100 Kinderbetreuungseinrichtungen der Diözese Graz Seckau. Die Misere im Kindergarten hat ernsthafte wirtschaftliche Auswirkungen, vor allem, wenn es um die Erwerbsquote von Frauen geht. Damit ein Kindergarten das Kriterium „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, die sogenannten VIF-Kriterien erfüllt, muss er 45 Stunden in der Woche und 47 Wochen pro Jahr geöffnet sein und ein Mittagessen für die Kinder anbieten. In der Steiermark erfüllt knapp die Hälfte aller Einrichtungen diese Kriterien.
„Die Verfügbarkeit eines passenden und leistbaren Betreuungsangebotes nimmt direkten Einfluss auf die Erwerbstätigkeit der Mütter“, heißt es in einem Bericht des Zentrums für Verwaltungsforschung im Auftrag des Gemeindebundes. „Jede zweite Frau mit Kinderbetreuungspflichten (48 Prozent) ist teilzeiterwerbstätig, während nur vier Prozent der Männer mit Kinderbetreuungspflichten Teilzeit arbeiten. 20 Prozent der Frauen gelten als nicht-erwerbstätig, in Vollzeit arbeiten 19 Prozent der Frauen.“

Nachholbedarf orten die Autorinnen der Fact Sheets „Elementare Bildung in Österreich“ in der Steiermark und teilweise auch in Salzburg: Besonders niedrig sind die Betreuungsquoten
bei den 0–3-Jährigen. „Hier wird das 2002 vereinbarte EU-weite Barcelona-Ziel einer Betreuungsquote von 33 Prozent in der Kleinkinderbetreuung auch im Jahr 2020 nicht erreicht“, weisen die Autorinnen der Fact Sheets nach. Was auch daran liegt, dass Österreich einfach zu wenig für Kinderbetreuung ausgibt. Dänemark und Schweden geben mehr als 1,5 Prozent des BIP für vorschulische Bildung aus, Österreich 0,7 Prozent. Damit liegt Österreich unter dem EU-(0,8 Prozent) und unter dem OECDDurchschnitt von 0,9 Prozent. Awender-Hohenadler legt den Finger auf einen anderen wunden Punkt im System: „Es liegt auch an der mangelnden Wertschätzung“, sagt sie.
Ein Punkt, den die beiden Elementarpädagoginnen Anna und Sonja gerne unterstreichen: „Niemand wird wohl in Zweifel ziehen, dass wir während der Corona-Pandemie System-Erhalter waren“, sagen sie. „Einen Corona-Bonus haben wir trotzdem nicht bekommen. Das sagt doch eigentlich alles, oder?“ 

* Namen von der Redaktion geändert

Fotos, istock / romrodinka, istock / Liderina

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