Grazetta

Schule in Not

Österreichs Schulsystem krankt an vielen Stellen: Zu wenig Lehrer, zu viel Bürokratie und mittelmäßige schulische Erfolge frustrieren alle Beteiligten. Wie es anders gehen könnte , machen nordeuropäische Länder vor.

Stellen Sie sich einmal diese Schule vor: 20 Kinder sitzen in einer Klasse, auf die 550 Schüler kommen 43 Lehrer, die von 14 Assistenten unterstützt werden. Um das Wohl der Kinder kümmert sich ein Schulpsychologe, ein Welfare Officer und eine School Nurse. Sieben Sonderpädagogen betreuen Kinder, die sich mit dem Lernen schwertun. Insidern des österreichischen Schulsystems mag diese Ausstattung wie der pädagogische Himmel auf Erden vorkommen. In Finnland ist sie gang und gäbe. Was wohl mit ein Grund dafür sein dürfte, dass das Land regelmäßig im Spitzenfeld bei den Ergebnissen der PISA-Tests liegt.

Ein anderer Grund für das gute Abschneiden ist die weitgehende Autonomie, die etwa die finnische Regierung den Schulen im Land zugesteht. In dem skandinavischen Land gibt die Regierung nämlich nur einen Rahmenlehrplan vor. Über dessen Ausgestaltung, die Unterrichtsmethoden und die Lehrmaterialien entscheiden die Lehrer. Man traut in Finnland Direktoren und Lehrern eben zu, selbst zu wissen, was ihre Schüler brauchen, wie man sie zum Lernen motiviert und wie man die Lernziele am besten erreichen kann. Autonom entscheiden können die Schulen in Finnland auch über fast die Hälfte ihres Budgets.

Anschaffungen, besondere Projekte oder Exkursionen, finnische Schulen haben dabei freie Hand. Was erstaunlicherweise nicht bedeutet, dass Finnland wesentlich mehr Geld für das Schulwesen ausgibt als Österreich. In Finnland sind es 5,2 Prozent des BIP, in Österreich 4,6 Prozent Auffallend dabei ist allerdings, dass Österreich viel mehr pro Schüler ausgibt als Finnland: In Österreich sind es laut der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) 15.500 US-Dollar, in Finnland 11.000 US-Dollar. Was für die Experten der OECD eindeutig auf die Ineffizienz des Systems in Österreich hinweist.

Dass Österreichs Bildungssystem 9,5 Prozent des Gesamthaushalts auffrisst, schlägt sich allerdings nicht in besonders guten schulischen Erfolgen der Kinder nieder. 20 Prozent der Pflichtschulabsolventen haben Schwierigkeiten mit sinnerfassendem Lesen und mit den Grundrechnungsarten. Eine erschreckend hohe Zahl, wenn man bedenkt, wie groß die Schwierigkeiten dieser Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt sein werden.

Formulare ausfüllen statt unterrichten: Lehrer fordern weniger Bürokratie.

Papierkrieg
Ein Grund für die nur mittelmäßigen Zensuren, die Österreich bei den PISA-Tests bekommt, dürfte in der extremen Bürokratisierung des Sektors liegen. „Wir verbringen zu viel Zeit mit dem Ausfüllen von Formularen“, sagt eine Lehrerin an einer HTL, die lieber anonym bleiben will. Weil es an ihrer Schule nicht genug PCs gibt, erledigt sie die bürokratischen Aufgaben am Abend zuhause. Wie viele ihrer Kollegen hätte sie gerne administratives Personal, das ihr den Papierkrieg aus der Hand nimmt. Die Bildungsreform des Jahres 2017 hätte der Bürokratisierung und der föderalistischen Zersplitterung der Zuständigkeiten eigentlich entgegenwirken sollen. 2017 wurden die sogenannten Bildungsdirektionen als gemeinsame Schulbehörde von Bund und Ländern eingeführt. Das Resümee des Rechnungshofes: „Das Grundproblem – die Kompetenzzersplitterung im Schulwesen – wurde damit allerdings nicht gelöst.“

Das Grundproblem – die Kompetenzzersplitterung im Schulwesen –
wurde nicht gelöst

kritisiert der RECHNUNGSHOF

Was auch daran liegen dürfte, dass die Bildungsdirektionen im Förderalismus-Dschungel gefangen bleiben. Der Bildungsdirektor ist zwar dem Bildungsministerium unterstellt, die Präsidenten der neun Bildungsdirektionen sind aber die Landeshauptleute oder die von ihnen entsandten Landesräte. Diese typisch österreichische Konstruktion widerspreche dem Ziel der Entpolitisierung, hält der Rechnungshof lapidar fest. Das Kontrollorgan nennt dafür ein Beispiel: 2021 wollte das Bildungsministerium von der Salzburger Bildungsdirektion wissen, welche Personalveränderungen beziehungsweise Nachbesetzungen von Landesbediensteten inklusive deren Qualitätsprofile es gegeben habe. Das Amt der Salzburger Landesregierung hat die Weitergabe personenbezogener Daten an das Ministerium kurzerhand untersagt. Der Föderalismus kann schon recht skurrile Blüten treiben.

Flucht aus der Schule
Umso mehr, als zu Beginn des Schuljahres 2023/2024 gerade wieder einmal der Lehrermangel Eltern wie Schulleitern große Sorgen macht. Man könnte über den Vor-schlag, Soldaten als Quereinsteiger in die Schulen zu schicken, herzhaft lachen, wenn der Mangel an Lehrern nicht ernst genug wäre. An der Anzahl der Studierenden, die sich für diesen Berufsweg entscheiden, liegt es nicht. Sondern eher daran, dass viele Junglehrer ihren Job schon nach wenigen Jahren hinschmeißen. „Die Pensionierungswelle ist nicht das Problem, sondern die Flucht aus der Schule“, sagt der Schweizer Bildungsexperte Carl Bossard. „Die Verwaltung dominiert die Pädagogik. Es wird gemessen und getestet, evaluiert und verglichen, korreliert und prognostiziert wie noch nie.“

Ähnlich sehen das Lehrer, die sich in der Initiative „Schule brennt“ zusammengeschlossen haben. Die Plattform fordert die Abschaffung sinnloser Tests, wie den IKM Plus Test, der die individuellen Kompetenzen in den Fächern Lesen und Rechnen erhebt. Der Lehrer erhält die Ergebnisse, die ihn wohl kaum überraschen werden. Man kann sich also tatsächlich fragen, ob der Lehrer damit Defizite erkennt, die ihm im täglichen Unterricht nicht auch so aufgefallen wären. Glaubt man der Initiative „Schule brennt“, dann muss man Lehrern vor allem die Möglichkeit geben, das zu tun, für das sie ausgebildet worden sind: nämlich Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln. Und dass man den Pädagogen zutraut, dies nach bestem Wissen zu tun, ohne dass ihnen dabei dauern jemand auf die Finger schaut.

Weil der bürokratische Aufwand tatsächlich überhandnimmt, bewerben sich auch immer weniger Lehrer für die Leitung einer Schule. In den vergangenen fünf Jahren haben sich für 160 ausgeschriebene Leitungsposten an Bundesschulen –AHS, BMHS –nur in 23 Fällen mehr als drei Interessenten gefunden. In den nächsten fünf Jahren gehen laut Bildungsministerium an den 6.000 Pflicht- und Bundesschulen fast 1.500 Direktoren in Pension. Will man den Beruf wieder attraktiver machen , braucht es also dringend Assistenzkräfte an den Schulen. Das ist auch den Bildungsverantwortlichen in Bund und Ländern klar. Deshalb wird der Bund in Zukunft mehr Geld für administratives Personal an den Pflichtschulen beisteuern, wie Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) bekanntgab.

Dass das österreichische Schulsystem angeschlagen ist, dieser Diagnose stemmt sich Bildungsminister Polaschek mit Vehemenz entgegen: „Das Bildungssystem wird strukturell krankgejammert“, sagte er kurz vor den Sommerferien. Polaschek verweist auf eine Zahl von Reformen: Mit der Anwerbung von Quereinsteigern über die Initiative „Klasse Job“ und der Verkürzung des Lehramtsstudiums, die im Herbst vom Nationalrat beschlossen werden soll, wird laut Polaschek der Personalmangel entschärft.

Die Pensionierungswelle ist nicht das Problem,
sondern die Flucht aus der Schule.

CARL BOSSARD, Bildungsexperte

Ein Argument, warum für viele Verantwortliche das finnische Modell für Österreich nicht anwendbar sei, betrifft den Prozentsatz von Kindern, für die die Unterrichtssprache nicht ihre Muttersprache ist. Tatsächlich ist der in Finnland mit zwei Prozent deutlich niedriger als in Österreich mit 27 Prozent. Wobei bei der Bewertung dieser Prozentsätze Vorsicht geboten ist, sagen sie doch erst einmal nichts über die tatsächlichen Kenntnisse der Unterrichtssprache aus.

Elementarpädagogik
Tatsache ist, dass in Finnland der Besuch des Kindergartens für Kinder migrantischer Familien verpflichtend und kostenlos ist. Ganz einfach deshalb, weil die Kinder dort spielerisch finnisch lernen. Ein Zugang, der wohl auch für Österreich überlegenswert wäre. Wäre da nicht die Knappheit an freien Plätzen. In der Steiermark will man daher 270 Millionen Euro in die Elementarpädagogik investieren. Die Gruppengrößen sollen schrittweise von 25 auf 20 Kinder verkleinert werden.

Die Gemeinsame Schule der
10 bis 14-Jährigen als Instrument
für mehr Chancengleichheit.

Fraglich ist, ob es mit all diesen kleinen Verbesserungen getan ist. Wie Schule besser geht, dafür liegen die Konzepte seit Jahrzehnten auf dem Tisch. Dass sie nicht umgesetzt werden, hat mit politischen Kräfteverhältnissen zu tun und mit einem eher konservativen Bild der Gesellschaft. Die ewige Diskussion um die Gemeinsame Schule für die 10 bis 14-Jährigen ist dafür ein gutes Beispiel. So gut wie alle Bildungsexperten betonen, dass eine Entscheidung über den weiteren Bildungsweg im Alter von zehn Jahren nicht sinnvoll ist. Gutsituierte Eltern werden alles tun, damit ihr Kind den Übertritt ins Gymnasium oder an eine berufsbildende höhere Schule schafft. Kinder ohne die Förderung ihrer Familie landen in der Neuen Mittelschule, obwohl sich viele dieser Kinder wünschen, mit 14 Jahren eine weiterführende Schule zu besuchen.

Wie also könnte man das Bildungssystem in Österreich einer Generalüberholung unterziehen? Einer Reform, die den Ansprüchen der Gesellschaft entspricht und für Chancengleichheit sorgt.

Fotos: Unsplash, pexels

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