Grazetta

Von Rüpeln und anderen Zeitgenossen

Haben wir es verlernt, höflich miteinander umzugehen? Was stimmt tatsächlich an dem Eindruck, dass in der Gesellschaft die Rüpel überhandnehmen? Grazetta hat sich umgesehen.

Wir alle können aus dem Stegreif eine Geschichte erzählen: Von jemandem, der sich an der Supermarkt-Kassa vordrängt, von jemandem, der andere Menschen unflätig beschimpft, von hasstriefenden Kommentaren in Sozialen Medien. Besonders ergiebig ist in dieser Hinsicht der Tatort Straßenverkehr, vor allem bei Auseinandersetzungen zwischen den Radfahrern und Autofahrern, zwischen David und Goliath, wenn man so will.

Dass der Umgangston miteinander rauer wird, wird die Supermarkt-Kassierin ebenso bestätigen wie der Polizist und die Krankenschwester. Zurück bleibt in jedem Fall ein höchst unangenehmes Gefühl. Respektlosigkeit lähmt und macht manchmal auch Angst. Ein herzhaft es „depperter Radler“ kann einem schon einmal den Tag vergällen, besonders dann, wenn man sich keiner Übertretung der Straßenverkehrsordnung bewusst ist.

Höflicher und wertschätzender Umgang miteinander ist so etwas wie der Schmierstoff der Gesellschaft. Er erleichtert das Zusammenleben, sorgt dafür, dass Interessensgegensätze nicht eskalieren und Kompromisse gefunden werden können. Kinder lernen schon in der Sandkiste, dass man dem anderen Kind nicht einfach die Schaufel wegnehmen darf, dass man warten muss, bis man an der Reihe ist. Die meisten Menschen halten Höflichkeit für etwas Selbstverständliches, man weiß, wie man sich in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit zu benehmen hat. Zumindest theoretisch.

Verletztes Selbstgefühl
Ob dieses Wissen in der alltäglichen Praxis verloren gegangen ist, darüber streiten auch Fachleute. Das hat auch damit zu tun, dass man, wenn es um Respekt geht, eigentlich zwei Ebenen auseinanderhalten muss. Darauf verweist die Respect Research Group, ein interdisziplinäres Forscherteam an der Universität Hamburg. Da ist einmal der sogenannte vertikale Respekt, also die Höflichkeit, die man zum Beispiel einem Vorgesetzten oder einem Lehrer entgegenbringt. Hier hat sich in den letzten Jahren einiges verändert. Gesellschaft liche Hierarchien werden flacher, ein Erbe der 1968er Generation, das sich in den Umgangsformen der Gegenwart niederschlägt. Dass Lehrer von ihren Schülern geduzt werden dürfen, gilt heute als akzeptabel. Mit Respektlosigkeit hat das wohl nichts zu tun. Die zweite Ebene ist die des horizontalen Respekts, der auf Achtung und Gleichwertigkeit aller Menschen beruht. Die Veränderungen in diesem Bereich sind beunruhigender. Manche Experten führen das auf den Einfluss zurück, die digitale Kommunikation auf unser Alltagsverhalten hat. Wir kommunizieren digital ergebnisorientiert, schnell und ohne Höflichkeit. Soziale Medien tun ein Übriges: Man postet, ohne seinem Gegenüber in die Augen sehen zu müssen. Ein bösartiger Kommentar lässt sich schnell in die Tastatur tippen. Mit einer Zurechtweisung braucht man nicht zu rechnen. Hinzu kommt, dass wir in einer Ego-Gesellschaft leben. Das betont der Hamburger Psychologe Hartwig Hansen: „Jeder ist mit sich beschäftigt, an seiner Performance zu basteln, sich zu optimieren, sodass wir verlernen, miteinander zu kommunizieren.“ Zwischenmenschliche Kontakte werden damit anonymer und unverbindlicher, ein Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse wird abgelehnt. Aber genau das macht seiner Meinung nach Beziehung aus. Auch Stress spielt eine Rolle, was man im Straßenverkehr beobachten kann. Man schimpft, bevor man darüber nachdenkt, wie man damit auf andere wirkt und ob man vielleicht selbst im Unrecht ist.

Autofahrer:
Schimpfen im Straßenverkehr:
Das Gesetz des Stärkeren.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch der Philosoph Richard David Precht in seinem Buch „Die Kunst, kein Egoist zu sein“: „Respektlosigkeit ist das überschießende Pochen auf die eigenen Freiheitsrechte.“ In der menschlichen Natur angelegt ist dies aber nicht. Wie die Hirnforschung gezeigt hat, ist der Mensch ein Wesen, das sich nach sozialer Anerkennung und nach positiver Zuwendung sehnt. Das ist auch der Grund, warum eine unflätige Beschimpfung manchmal so weh tut: „Es ist schlimm, wenn man uns als Mensch infragestellt, wenn man unser Selbstwertgefühl verletzt“, schreibt Precht.

Das Problem dabei ist, dass der Mensch als Herdentier das Verhalten anderer kopiert. Ein Beispiel: Zwei Menschen stehen an einem Fußgängerübergang. Die Ampel ist rot. Einer der beiden überquert die Straße. Was tut sein Nachbar? Er wird in den meisten Fällen auch bei Rot über die Straße gehen. Das hat die Schwarmforschung nachgewiesen. Precht verweist in seinem Buch auf „shifting baselines“, auf sich verschiebende Grundprinzipien, was gesellschaftlich erlaubtes beziehungsweise unerwünschtes Verhalten betrifft. Ein Beispiel: Man sitzt in einem vollbesetzten Zugabteil und erhält einen Anruf. Verlässt man das Abteil, um seine Mitreisenden nicht zu stören, oder telefoniert man so, als wäre man allein im Abteil? Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel dürften wissen, dass die ungenierten Telefonierer inzwischen in der Mehrheit sind. Der Philosoph Precht erklärt dieses Phänomen so: „Menschen können ihre Selbstaufmerksamkeit ausknipsen.“ Was nichts anderes bedeutet, als dass wir unsere sozialen Instinkte bei Seite schieben können, und zwar ohne schlechtes Gewissen. Was dazu führt, dass sich der Telefonierer im Zugabteil trotzdem für einen guterzogenen Zeitgenossen halten kann, obwohl er seiner Mitwelt gerade ziemlich auf die Nerven geht.

Überzeugung und Verhalten
Der Mensch verfügt also über ausgeklügelte Instrumente, um sein Selbstbild vor seinem schlechten Gewissen zu schützen. „Wir entlasten, entschuldigen und beruhigen uns“, schreibt Precht. Wie effizient diese Fähigkeit ist, lässt sich wohl beim Thema Erderhitzung illustrieren. Wir alle wissen, dass wir mit unserem Konsumverhalten dabei sind, unsere Lebensgrundlage zu zerstören. In den Urlaub fliegen wir trotzdem. „Weil die Chinesen ohnehin viel mehr Treibhausgase produzieren als wir Österreicher“, sagen wir uns vor. Ein klassischer Fall von kognitiver Dissonanz, würde der US-amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger sagen, der dieses Phänomen 1995 als erster erforscht hat. Wir passen also unsere Überzeugungen unserem Verhalten an und nicht umgekehrt. Legt man dieses Phänomen auf rüpelhaft es Verhalten um, dann bedeutet das, dass man sein Gegenüber beleidigen kann, weil man ihn oder sie ohnedies für einen Trottel hält.

Höflicher Umgang
als Schmiermittel
der Gesellschaft.

Ein anderes Motiv, Mitmenschen herabwürdigend zu begegnen, kann auch aus eigenen Verletzungen resultieren. Donald Trump ist dafür ein recht gutes Beispiel: Der ehemalige US-Präsident und Immobilien-Tycoon wollte nichts lieber als zur kulturellen und intellektuellen Elite des Landes gehören.

Was ihm trotz seines großen Vermögens einfach nicht gelingen wollte. Einmal gewählt, tat er nichts lieber, als diese Elite in zahllosen Tweets zu beleidigen und sich über sie lustig zu machen. Ein klassischer Fall, der an die Fabel vom Fuchs und den Trauben des griechischen Dichters Äsop erinnert. Weil der Fuchs die Trauben nicht erwischt, die er so gerne fressen würde, redet er sich ein, dass sie ohnedies viel zu sauer sein würden. Egal, ob man nun denkt, dass unsere Mitmenschen unhöflicher werden oder nicht: Wir haben es selbst in der Hand, den Umgang miteinander angenehmer zu machen. Denn auch höfliches Verhalten färbt auf das Herdentier Mensch ab.  

Foto: Adobestock (shchus). Istockphoto (DjelicS, PeopleImages)

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