Grazetta

Von Klassikern und digitalem Theater

Die Dramaturgin Andrea Vilter übernimmt im Herbst die Intendanz des Schauspielhaus Graz. Im Interview spricht sie von ihrer Liebe zur österreichischen Literatur und erklärt, warum es ihr gerade in Vergessenheit geratene Stücke angetan haben.

GRAZETTA  Sie eröffnen die Saison mit „Von einem Frauenzimmer“ von Christiane Karoline Schlegel, einer Autorin des 18. Jahrhunderts, die weitgehend unbekannt ist. Das ist eigentlich schon extravagant.
ANDREA VILTER  Extravagant ist ein schönes Wort dafür. Das Stück ist ein bürgerliches Trauerspiel, also ein Klassiker. Wäre Lessing der Autor, niemand würde sich wundern, dass man das Stück auf den Spielplan setzt. Was aber Schlegels Stück so spannend macht – es ist zu Lebzeiten der Autorin als unmoralisch aus dem Theaterkanon aussortiert worden – , ist das Thema Frauenmord, also des Femizids. Im bürgerlichen Trauerspiel wird am Schluss sehr oft eine Frau ermordet. Schlegel erzählt die Geschichte aus weiblicher Perspektive, das macht es spannend und relevant für die Gegenwart.

Andrea Vilter (l.) mit Chefdramaturgin Anna Sophia Güther: Den Kanon der Theaterliteratur erweitern.

Um den Tod von Frauen wird es auch in der Produktion „Sehr schön und sehr tot“ von Rebekka David gehen. Gehören die beiden Stücke zusammen?
AV  Eigentlich schon, ich hätte das Stück deshalb gerne noch dieses Jahr gezeigt und nicht erst im Juni nächsten Jahres. Denn auch in dieser musikalischen Séance geht es darum, dass viele Filme mit einer weiblichen Leiche beginnen. Das ist in „Twin Peaks“ so, aber auch beim Tatort. Rebekka David hat aus Texten von Ödön von Horváth, aus Briefen Fragmente zusammengetragen, David untersucht so, warum dieses Motiv so dominant ist.

Mit Maria Lazars „Der Nebel von Dybern“ bringen Sie ein weiteres Stück einer vergessenen Autorin auf die Bühne.
AV  Das Stück von Maria Lazar ist eine Neuentdeckung und gehört zur Programmlinie der von mir so genannten „Kanonerweiterung“. Meine Chefdramaturgin Anna-Sophia Güther, mit der ich eng zusammenarbeite, hat das Drama gefunden. Mir war von Anfang an klar, dass dieses Stück aus den 1930er Jahren auf den Spielplan muss, weil es so gut geschrieben ist und wahnsinnig schöne Figuren hat. Im Stück geht es um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Es ist sehr düster, vieles wird man angesichts unserer Gegenwart wiedererkennen. In dieser Welt kann ich kein Kind bekommen, sagt eine Figur im Stück. Das sagen junge Frauen heute auch. Lazar stand 1933 schon einmal auf dem Spielplan des Schauspielhaus Graz. Zur Aufführung kam es nicht. Maria Lazar war Jüdin. Um das Thema Mensch und Umwelt geht es auch in Elfriede Jelineks Stück „Sonne/Luft“. Das Stück ist eine Uraufführung. Dass Jelinek uns dieses Vertrauen schenkt hat, freut mich sehr.

In Ihrem ersten Spielplan bringen Sie viele Autorinnen und frauenpolitische Themen auf die Bühne. Ein bewusst gewählter Schwerpunkt?
AV  Ein Zufall ist das natürlich nicht, aber wenn man den ganzen Spielplan anschaut, sieht man, dass es nicht unser einziger Schwerpunkt ist, auch wenn das manche so wahrnehmen. Es gibt dazu übrigens interessante Studien über diese Wahrnehmung: Wenn es in einem Ensemble 30 Prozent Frauen gibt, glauben Männer, dass Frauen in der Überzahl sind. Beschäftigt man sich mit Frauenthemen, dann heißt es schnell, die beschäftigen sich nur mit diesem einen Thema. Sobald es eine weibliche Intendanz gibt, verfestigt sich dieses Bild noch einmal. Ist das nicht verrückt?

SCHAUSPIELHAUS -PREMIEREN 2023

→ 22.09.2023
Von einem Frauenzimmer

Bürgerliches Trauerspiel von Christiane Karoline  Schlegel. Uraufführung

→ 13.10.2023 | Sonne/Luft
Von Elfriede Jelinek. Österreichische Erstaufführung in Kooperation mit dem steirischen herbst

→ 4.11.2023 | Leonce & Lena
Lustspiel von Georg Büchner, Rebekka David & Ensemble

→ 24.11.2023 | Der Zerrissene
Posse mit Gesang von Johann Nestroy

SCHAURAUM

→ ab 23.09.2023
Meta Morphosen

Eine Mini-Serie nach Ovid

→ ab 10.11.2023
I am from Austria

Eine innenpolitische  Abrechnung in fünf Folgen vom Institut für Medien, Politik und Theater

KONSOLE

→ ab 24.09.2023
Flintridge/Der Mensch erscheint im Holodeck

Mixed Reality Installationen von F. Wiesel/ Österreichische Erstaufführung.

Plakat für die Produktion
„Von einem Frauenzimmer“

Unbestritten dürfte aber Ihr Interesse an österreichischen Dramatikern sein. Allen voran Johann Nestroy.
AV  Sein „Der Zerrissene“ ist wirklich eine Herzensposition für mich. Nestroy kannte ich zwar, aber so richtig entdeckt habe ich ihn erst in Graz. Was den Autor so interessant macht, sind nicht nur seine aktuellen Themen wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, sondern auch seine originellen Dramaturgien. Da reißen Handlungsstränge ab, tauchen später wieder auf, die Stücke sind nicht nach klassischer Manier aufgebaut. Sie sind volkstümlich und das macht sie spannend. Regie führt im „Zerrissenen“ Ulrike Arnold. Das passt wunderbar. Denn sie ist, wie Nestroy auch, nicht nur Theatermacherin, sondern auch Schauspielerin und eine wundervolle Komödiantin.

Mit „Schwabgasse 94“ haben Sie eine Hommage an den Grazer Autor Werner Schwab auf den Spielplan gesetzt.
AV  Werner Schwabs Todestag jährt sich 2024 zum 30. Mal. Schwab war für die Stadt Graz, aber auch für meine Theatersozialisation ein eminent wichtiger Autor. Deshalb freut es mich, dass wir mit dem Regisseur David Bösch einen ausgewiesenen Schwab-Spezialisten gewinnen konnten, der eine Collage mit Figuren aus verschiedenen Stücken erarbeitet. Rudi Widerhofer, der Schwab gut gekannt hat, wird in dieser Collage das Alter Ego des Autors verkörpern.

Ihre Ernennung zur Geschäftsführenden Intendantin erfolgte einstimmig. Welche Gründe hatten Sie, um sich für das Schauspielhaus Graz zu bewerben?
AV  In der Zeit von Intendantin Anna Badora hat man mir mal die Stelle der Chefdramaturgin angeboten. Ich kannte also das Haus und die Stadt schon ein bisschen. Aufgrund meiner Arbeiten am Wiener Burgtheater, bei den Salzburger Festspielen oder zuletzt an der Volksoper Wien habe ich einen Bezug zu Österreich und zur österreichischen Theaterlandschaft. Es gab ein paar Leute, die mich aufgefordert, ja angestupst haben, mich zu bewerben. Weil ich das Haus und die Stadt toll finde, habe ich eine Bewerbung abgegeben, eher aus sportlichen Gründen. Weil ich mir dachte, die werden ja wohl nicht auf mich gewartet haben. Als ich aber dann zu Gesprächen eingeladen worden bin und im Bewerbungsverfahren war, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich diese Position unbedingt erreichen wollte. Ich habe der Jury, die mit der ehemaligen Direktorin des Wiener Burgtheaters Karin Bergmann hochkarätig besetzt war, die Skizze eines Spielplans vorgelegt. Da war mir dann schon ganz klar, dass es der Knüller wäre, wenn es klappen würde.

Was haben Sie der Jury vorgeschlagen?
AV  Neben der schon erwähnten Kanonerweiterung, war mir ein ganz wichtiger Punkt die Auseinandersetzung mit österreichischer Literatur. In der Grazer Kulturszene gibt es viele Deutsche. Ich bin eine davon. Wie schauen wir auf diese Stadt? Den Blick von außen auf die österreichische Literatur finde ich spannend. Ich will zeigen, wie wertvoll österreichische Literatur ist. Das wird auch ein Schwerpunkt in unserer Vermittlungsarbeit sein. Österreichische Literatur sollte auch an Schulen größeres Gewicht bekommen. Man muss nicht immer nur den Faust lesen. Viel Wert lege ich also auch auf Vermittlungsarbeit. Und ich werde Digitales Theater fest am Haus etablieren.

Plakat für die österreichische Erstaufführung von Elfriede Jelineks Stück Sonne/Luft

Plakat für Georg Büchners Leonce & Lena.

SCHAUSPIELHAUS -PREMIEREN 2024

→ 12.01.2024 | Schwabgasse 94
Eine Hommage an Werner Schwab

→ 09.02.2024
Der Nebel von Dybe

Drama von Maria Lazar/
Österreichische  Erstaufführung

→ 08.03.2024 | Prima Facie
Ein Kreuzverhör von Suzie Miller

→ 06.04.2024 | Carmilla
Eine steirische Vampirkomödie nach Sheridan Le Fanu

→ 27.04.2024
Der Bürger als Edelmann

Ballettkomödie von Molière und
Jean-Baptiste Lully/ Koproduktion mit der Oper Graz

SCHAURAUM

→ Jänner 2024 | Die Party
Ein kulinarischer Ritt durch die Nacht/Uraufführung

→ Feber 2024 | 28 Milliarden
Von Paula Kläy &
Guido Wertheimer

→ Juni 2024
Sehr schön und sehr tot

Eine musikalische Séance
von Rebekka David,
Gina Henkel & Ensemble

→ Monatlich: Drama | Tisch Shared Reading-Reihe, in Kooperation mit dem Drama Forum Graz

→ Monatlich: Schaulaufen
Einmalige Abende von und mit dem Ensemble

KONSOLE

→ Frühjahr 2024: Digithalia
Festival für digitale Theaterformen Graz, kuratiert von F. Wiesel


Wir suchen den
Austausch mit dem
Publikum und der
Grazer Gesellschaft

ANDREA VILTER, Intendantin

Was muss man sich unter digitalem  Theater vorstellen?
AV  Unser Künstler-Duo, F. Wiesel, wird in die Konsole ziehen und ein digitales Programm gestalten. Während der Pandemie hat das Duo digitale Formen für sich entdeckt. Die Künstler kommen aber auch vom klassischen Theater, sie können also beides. Mit dem Festival Digithalia wollen wir vor allem ein junges Publikum ansprechen.

Einer Ihrer Schwerpunkte ist die Vermittlungsarbeit. Was steht dabei im Vordergrund?
AV  Wir sind mit einem neuen interdisziplinären Team breit aufgestellt. Ich will unter anderem den Kontakt zu den Schulen und Universitäten intensivieren und wir haben schon angefangen, ein neues Lehrer-Netzwerk zu etablieren. Die Workshops für Schüler werden weitergeführt und es gibt Fortbildungen und Kooperationen im Bereich Erwachsenenbildung. Neben der Partizipation in Clubs und offenen Spielformaten haben wir neue Salonformate geschaffen, in denen wir den Austausch mit dem Publikum und der Stadtgesellschaft suchen. Neben der Theaterpädagogik ist auch die Dramaturgie stark eingebunden und F. Wiesel werden von der Konsole aus mit künstlerischen Partizipationsangeboten wirksam werden. Wir wollen allen Grazern ein Angebot machen und wir wollen auch Menschen ansprechen, die nicht zum Bildungsbürgertum gehören.  

Fotos: MiasPhotoart, Johanna Lamprecht, Dominik Harborth

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